Kerala ist ein Paradies oder war ein Paradies.
Jetzt kommt sie wieder, die Beschreibung der ökologischen Krise, die Mahnung, die Apokalyptik und die Schulzuweisungen. Wie so oft, dass ich es eigentlich nicht mehr hören, lesen und hier schreiben will. Wir wissen doch darum, oder?
Außerdem bin ich verstrickt mit der Krise hier, es gibt kein Außerhalb der Probleme. Keine unbeteiligte Beobachtung, die in diesem Blog auftauchen kann, denn die Spuren meines Tuns und Seins sind offensichtlich, hier in Kerala und auf unserer gesamten Reise. Überall sehen wir die Folgen unseres Tuns, als Menschen aus dem reichen Westen und als Touristen hier vor Ort.
Einmal Indien hin und zurück – und meine persönliche Klimabilanz ist durch den Flug für Jahre versaut. Egal, ob ich mich vegan ernähre und Second-Hand-Klamotten kaufe. Und dann landen wir in Kolkata, die Luftverschmutzung dort erschwert uns das Atmen, die Sonne ist vor Dreck nicht sichtbar und der Zyklon „Dana“ fegt über Westbengalen hinweg: Starkregen, Evakuierungen, Schulschließungen. Das waren unsere ersten Tage in Indien. Die verstörenden Folgen auch meines Tuns also. Es gibt kein Entkommen.
„Landkrank“ heißt ein Buch von Nicolaij Schultz, einem Soziologen aus Kopenhagen/Paris. Landkrankheit ist die Schwester der Reisekrankheit. Sie tritt beim Landgang nach einer längeren Seereise auf. Der Boden unter den Füßen schwankt, und es wird einem schwindelig auf unsicherem Grund. Die Landkrankheit ist für Nicolaij Schultz eine Metapher für die elementare Krisenerfahrung mit ökologischen Kipppunkten am Horizont und vor allem die eigenen Verstrickungen mit diesen.
Nun wusste ich von diesen Verstrickungen, aber deren Erfahrung hier in Indien ist etwas anderes, sie ist heftig und verstörend.
Indien ist sehr anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels. Der Monsun ist die Lebensquelle, 60% der Agrarfläche hier sind von seinen Niederschlägen abhängig. Der Monsun tritt in der Folge des Klimawandels weniger häufig auf und die Niederschläge werden extrem und unvorhersehbar. Der Monsun setzte Indien in jüngster Vergangenheit unter Wasser, insbesondere hier in Kerala.
Hier ist die Erde in einigen Gegenden derart aufgeweicht, dass eine ständige Erdrutschgefahr besteht. Sintflutartige Regenfälle, verheerende Überschwemmungen und Erdrutsche nehmen in Kerala während der Monsunzeit zu. Durch ungewöhnliche Starkregenereignisse kam es in 2018 zu schweren Überschwemmungen. 483 Menschen starben und über 1 Million Menschen mussten evakuiert werden, außerdem kam es zu schweren Schäden an der Straßeninfrastruktur. Ähnliches wiederholte sich 2019, 2021 und zuletzt in diesem Sommer. Von über 100 Toten wurde im August diesen Jahres zunächst berichtet, von weit mehr Vermissten, dann verliert sich die Berichterstattung. Das wunderschöne und lebensfrohe Kerala wirkt angeschlagen, so kommt es uns vor, auf unseren Mopedtouren die Küste entlang.
Gleichzeitig leidet Indien unter Trockenheit. Die durch den Temperaturanstieg verursachte höhere Verdunstung führt zu starken Hitzewellen, in der Bewohner nur in Notfällen das Haus verlassen können. Mit einer Temperatur von 51 Grad hat die Stadt Phalodi in Rajasthan einen neuen Hitzerekord in Indien aufgestellt.
In der Folge des Klimawandels wird in den nächsten Jahren ein deutlicher Rückgang der Reisproduktion erwartet, bis 2050 Ernteeinbußen von 30 Prozent und bis 2100 bis zu 70%. Gleichzeitig wird durch das Bevölkerungswachstum mehr Nahrung in Indien benötigt.
Hier in Kerala hat die Fischerei noch eine hohe wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung. Die Mannschaften fangen heute nur noch ein Fünftel dessen, was sich vor 10 Jahren in den Netzen befand.
Die Ursachen: Klimawandel, Überfischung und mit Abstand der sichtbarste Übeltäter, das Plastik. Fischarten verwechseln Plastikteilchen mit Beute, infolgedessen können sie an Unterernährung oder einer Vergiftung sterben. Andere Meerestiere verheddern sich in weggeworfenen Nylonnetzen und ersticken. Große Plastikansammlungen am Meeresboden sorgen außerdem dafür, dass einige Arten keinen Zugang zu ihren Laichgründen mehr finden. Indien ist weltweit eines der größten Plastikproduktionsländer und Verursacher von Meeresmüll.
Der immer weiter ansteigende Meeresspiegel könnte Küstengebiete auslöschen. Gleich um die Ecke liegt etwa Kuttanad, dort befinden sich 500 Quadratkilometer 2,20 Meter unter dem Meeresspiegel. Kuttanad gilt als Kornkammer, eine fruchtbare Landschaft in der fast 2 Millionen Menschen leben. Kuttanad liegt im Distrikt Alapuzzha, dort sind wir vor ein paar Tagen am Strand entlanggeschlendert, bei Sonnenuntergang und dabei ahnt man die Bedrohung des Landes. Innerhalb weniger Stunden verschwindet der Strand nahezu.
Der Ballungsraum um Kochi hat rund 2,1 Millionen Einwohner, so genau weiß man das nicht. Kochi liegt an der Küste und erstreckt sich über mehrere Inseln und Halbinseln. Wir sind hier oft mit Fähren unterwegs. Kochi liegt mit durchschnittlich zwei Meter über dem Meeresspiegel sehr niedrig und ist damit unmittelbar bedroht. Und gleichzeitig wird hier gebaut und gebaut, nicht etwa beim Hochwasserschutz, sondern Wohnungen und Hotels. Eine Betonwüste entsteht, direkt am Wasser. Mitte des Jahrhunderts wird die Stadt erheblich von heftigen Niederschlägen, andere Extremwettern und dem Meeresspiegelanstieg betroffen sein, so die Prognosen.
Gestern waren wir in der Einkaufsstraße von Kochi unterwegs. Es ist auch hier Weihnachtszeit. Der Mittelstand kauft ein. Rund 450 Millionen Menschen gehören in Indien dazu, Tendenz steigend. Die einsetzenden Konsumwellen kann man gut beobachten und kennen wir, als Boomer, bestens aus eigener Erfahrung. Kein Durchkommen mehr und dennoch zwängen sich dicke, neue Autos durch die engen Straßen direkt vor die Läden und verstopfen wie ein Korken die schmalen Straßen. Nichts geht mehr, außer Hupen. Und jetzt startet hier die Reisewelle der Mittelschicht mit 100 neuen Flughäfen bis 2035.
Auch hier will man sie ausleben, die individuelle grenzenlose Freiheit. Eine Grenzenlosigkeit, die die irdischen Bedingungen der Bewohnbarkeit ignoriert.
Also zusammengefasst: Unser, mein westlicher Lebensstil ist die Ursache der Klimakrise hier. Diese wird nun verstärkt, weil das bevölkerungsreichste Land der Erde unseren Lebensstil auch für erstrebenswert hält, bisher in einer nur leicht veränderten indischen Fassung.
Wenn überhaupt, stehen hier die Zeichen auf Klimaresilienz, also auf der Stärkung der Abwehrkräfte, die Abwendung der Klimakrise selbst ist kein Thema mehr.
Indiens Küste hat eine Länge von über 7.500 Kilometer, deren Hochwasserschutz erscheint mir unbezahlbar. Seine kleine Küste überfordert ja schon das reiche Deutschland.
Deutschland leistet dennoch, als Verursacher, seine Beitrag. Da heißt es in einer deutschen Projektbeschreibung:
„Ziel des Vorhabens ist es, die Straßeninfrastruktur in Kerala wieder aufzubauen, um deren Resilienz gegenüber den aufgrund des Klimawandels häufiger werdenden Starkregenereignissen zu stärken. Projektträger ist das Kerala State Transport Project. Deutscher Finanzierungsbetrag: 93 Mio. Euro.“ Relativ gesehen, ein (notwendiger) Tropfen auf den heißen Stein, aber dennoch viel Geld und vermutlich erst der Anfang.
„Where do you come from?“. – „Oh Germany! A very, very good and rich country! Siemens and Volkswagen“. Das hören wir täglich hier.
Der Boden unter meinen Füßen schwankt.