Autor: Thorsten

Die 27-Stunden-Erfahrung

Bi ist für unsere Unterbringungen verantwortlich, ich für unsere Mobilität, so der Deal. Von Patna bis nach Jaipur sind es etwas über 1.000 Kilometer. Da alle Züge ausgebucht sind, fahren wir mit dem Bus. Ich habe einen A/C Sleeper für uns gebucht, einen Schlafbus mit Klimaanlage. Riskant. Das kann für den Mobilitätsbeauftragten Abzüge in der B-, wenn nicht gar A-Note geben. Fazit vorab: es war eine Erfahrung. Da auf den Voucher unterschiedliche Abfahrtsorte angegeben waren, was dem Mobi-Beauftragten zu spät auffiel, standen wir zunächst am Rande einer sechsspurigen Ausfallstraße. Professionelle Mobis bleiben hier gelassen: Eben ein Tuk-Tuk finden und dem Fahrer den Weg durch Patna weisen, weil er die Schrift auf meinem Handy nicht lesen kann. Geht doch. Der richtige Abfahrtsort ist die Zentrale von „Panwar Travels“, eine abgerockte Garage. Auf dem Firmenschild zeigt mir Bi das Bild eines sehr modernen Busses. Der Bus kommt ca. 1 Stunde zu spät und vor uns steht ein Fahrzeug, das, nun ja, fährt. Was will man mehr. Was nun folgt, wiederholt sich später an jeder Einstiegsstation. Ein mächtiges …

Ein Überlebender

Patna liegt am Ganges. In der Stadt leben etwa 1,8 Millionen Menschen, in 25 Jahren sollen es ungefähr 5,1 Millionen sein. So in etwa. Wir waren heute am Ganges, am Mahatma-Gandhi-Ghat. Ghat nennt man hier eine zum Fluss hinunterführende Treppe. Auch hier steht ein kleiner Tempel. Der Fluss ist nur noch eine fließende Kloake, nur noch ein Stück Infrastruktur, einer der dreckigsten Flüsse auf der Erde. Vermutlich aus Platzgründen hat man in den Ganges hinein eine Hochstraße gebaut, vier- bis sechsspurig. Um die Ecke wird schon die nächste Hochstraße durch die Stadt gezogen, eine Metrolinie entsteht. Und dennoch schwimmt nunmehr seit 23 Millionen Jahren der Gangesdelfin durch diesen mächtigen und heiligen Fluss. In der Mythologie der Hindus reitet die Göttin Ganga auf einem Flussdelfin. Gangesdelfine sind praktisch blind, schwimmen auf der Seite und tasten sich mit ihrer Schwanzflosse am Grund entlang. Sie sind Einzelgänger und jagen über Echolotung. Sie haben eine sehr lange Schnautze, hervorstehende Zähne und blinde Augenhöhlen. 5.000 Exemplare sollen noch im Ganges leben. Ein Überlebender, trotz der Jagd auf sie, Staudämmen, Fabriken, …

Der Weg

Der Weg ins Zentrum von Bodhgaya dauert jeden Morgen 45 Minuten, zu Fuss. Er führt durch eine ländliche Gegend in die kleine Stadt hinein. Dieser tägliche Weg kurz nach Sonnenaufgang ist nicht schön, also nicht hübsch, nicht ästhetisch, nicht behaglich, nicht romantisch, nicht malerisch und nicht idyllisch. Er ist voll Müll, unfassbar viel Müll. Es ist schon frühmorgens laut, klar durch das Hupen, aber auch durch laute Musik in den kleinen Dörfern, aus Lautsprechern, die sich über das gesamte Land verquirlt. Warum nur? (Nachtrag: einen Tag später erfahren wir den Grund für die morgendliche Musik. Es ist Chhath Puja, ein viertägiges Fest der Hindus zu Ehren des Sonnengottes Surya, der der Erde Licht, Energie und Leben brachte. Dieses Fest wird vor allem im Bundesstaat Bihar gefeiert. Unser Vermieter hat uns auf dieses Fest am Ufer des Falgu River eingeladen. Also Planänderung. Wir bleiben noch eine Nacht hier). Der Weg ist gegensätzlich: Auf der einen Straßenseite polieren junge Hotelangestellte dicke, bereits strahlende, weiße SUVs, auf der anderen formen die Frauen Kuhfladen zum Trocknen. Wie fast wohltuend …

Vande Bharat Express

Morgens um fünf standen wir an der Straße, um den ersten Bus zu erwischen. Dann kommt aus dem Dunkeln ein Auto. Ein Mann steigt aus: „Howrah Railwaystation? 200 Rupien!“ Wir steigen zu und rollen dann zu fünft schweigend in dem kleinen Wagen quer durch die noch dunkle Stadt. Unser Abschied von Kolkata. Welchen Zug wir denn hätten, fragt mich der Fahrer. Ich erzähle etwas holprig von Gaya, 6:50 Uhr Abfahrt und so. Keine Reaktion. Der Fahrer schmeißt seine Handy an und sucht akribisch. Wir vier anderen achten besorgt auf die Straße. Dann zeigt er mir eine Übersicht der abfahrenden Fernzüge nach hinten in den Fond, dabei einem Tuk-Tuk etwas spät ausweichend. All die Züge haben einen Namen. Und ich sehe unseren Zug. Ich so: „Vande Bharat Express“. Und er so: „0h, Vande Bharat! Ok. It is the Old Howrah“. Jetzt schien alles geklärt. Dass Züge einen Namen haben und diese auch noch präsent sind, finde ich ziemlich cool, klingt ja auch fast wie „Orient-Express“ unser „Vande Bharat Express“. Zwei Tage habe ich gebraucht, um unsere …

Um die Ecke: Taj Biryani

Unser Appartement in Kolkata liegt im 5. Stock. Der kleine Fahrstuhl hat zwei Gittertüren, die zur Seite geschoben werden müssen. Dann ruckeln wir mit ihm nach unten, direkt in die dunkle Einfahrt des Hauses. Tritt man aus dem Haus ins Tageslicht, auf die Straße, macht es Bähm! Die etwa sechsspurige Lenin Saranin Road trifft auf zwei ebenso breite Straßen. Dieses Inferno 50 Meter vor unser Haustür ist Moulali Crossing und direkt an ihr befindet sich das Restaurant Taj Biryani, unser Imbiss um die Ecke. Offen zu allen Straßenseiten, hässlich, dreckig und es gibt nur wenig von dem, was auf der Karte steht. Unsere ersten Essen dort waren die üblichen Biryani: Vor dem Garen angebratener Reis mit Kartoffeln und Fleisch vom Huhn oder Lamm. Eigentlich muss man ein Biryani mit den Händen kräftig mischen, fast kneten. Dann entsteht mehr Sauce. Wir hantieren aber immer noch umständlich mit Plastiklöffeln. Bi mag die Rolls dort, hat etwas vom Sielwalleck in Bremen. Erste Gesprächsversuche, eigentlich mehr Zeichensprache. Der Chef mag uns und auch unser Trinkgeld, wir ihn und sein …

Chai

Masala Chai „bezeichnet in ganz Südasien ein Getränk aus Schwarztee, Milch, Zucker und einer Gewürzmischung.“ Soweit die Fakten. Chai ist aber deutlich mehr. In Kolkata geht derzeit so gegen sechs die Sonne auf. Die Stadt erwacht nur langsam und frühestens gegen neun ist sie auf der üblichen Betriebstemperatur. Diese drei Stunden am Morgen sind magisch: die Menschen kommen aus ihren Häusern, aus ihren Verschlägen, aus ihren Verkaufsständen, in denen sie die Nacht verbracht haben. Es ist noch relativ kühl, etwas unter 30 Grad. An den Wasserstationen sammeln sich die Männer zu einer ausgiebigen Waschung. Man kennt sich, grüßt sich. Plausch hier, Plausch da. Es scheint, das tägliche Getöse des Verkehrs verdeckt eine fast dörfliche Kultur, mitten im Zentrum der Stadt. Wobei Kolkata eigentlich ein einziges Zentrum ist. Einige Stände bereiten ihren Chai über Kohleöfen zu. Und so vermischt sich auf der Straße am frühen Morgen der leichte Kohlegeruch mit den Aromen von Zimt, Ingwer, Sternanis, Kardamon, schwarzer Pfeffer, Nelke und Macis. Nun ist Chai natürlich nicht gleich Chai. 1. Wir trinken ihn nur aus den …

Einsteigen – Aussteigen

Kolkata hat eine Metro, die in diesem Jahr ihr vierzigjähriges Jubiläum feiert. Die ganze Stadt wartet auf die Eröffnung einer weiteren Linie, die auch endlich den riesigen Bahnhof Howrah auf der anderen Flussseite anbindet. Bis zur Eröffnung der neuen Metrolinie staut sich der Verkehr jeden Tag auf der Howrah Bridge, die über den Fluss Hugli führt. Alternativ kann man sich von unzähligen Fähren über den großen Fluss setzen lassen. Metro und Fähre zeigen das gleiche Phänomen. Kaum steht die Metro still und hat die Fähre angelegt, strömen die Menschen hinein. Das offensichtliche Problem: die Menschen kommen nicht raus. Es gilt keineswegs die Regel, erst aus- und dann einsteigen. Das stresst mein deutsches Ordnungsgefühl, ist aber auch lustig, weil es jedes Mal zu regelrechten Verstopfungen kommt. Anders nun in den unzähligen uralten, lauten und qualmenden Bussen. In jedem Bus gibt es einen Türpförtner und Zeremonienmeister in einer Person. Ein Pförtner allerdings ohne Tür, weil diese in Kalkutta entfallen. Der Mann steht während der Fahrt mit wehenden Haaren im offenen Eingang des Busses. Er sorgt dafür, dass …

Zeitungslektüre 1: Hansi Flick

Wir lesen hier die indische Ausgabe des „The Telegraph“. Die Papierausgabe gibt es morgens an der Straßenecke. Das ist in der Stadt der Handys so richtig Old School, aber auch lässig, so mit der Zeitung unterm Arm und es trainiert mein schlechtes Englisch. Mein erster Blick geht dann, wie zu Hause auch, in den Sport. Die Wochenendausgabe des Telegraph hat heute drei Sportseiten. Wir sind in Indien, in Westbengalen, in Kolkata und wer guckt mich neben der Headline an? Genau. Hansi. „Ancelotti und Flick ready for clasico battle.“ Dann folgt zunächst auf der ersten Seite ausführlich alles zu Cricket. Was mich nicht wundert, weil die Jungen hier, wenn es der Verkehr zulässt, ihre langen Schläger auf den Straßen schwingen, am Sonntag auf den wenigen breiten „Boulevards“ und in den schmalen Gassen von Old-Kalkutta. Das hiesige Stadion Eden Gardens fasst 68.000 Zuschauer! Ansonsten dreht sich aber alles um den Fußball: Hansi, Mourinho, Fenerbahce, Pep, Messi, de Bruyne, Yamal…. Beim Chai kann man mit den Einheimischen so richtig fachsimpeln über einen Sport, der hier nur wenig gespielt …

Das Hupen

Kolkata ist laut oder besser: sehr laut. Kolkata ist voller Menschen ….. und Autos und Busse und Tuk Tuks und Rikschas und Fahrräder und Motorräder und… Kolkata ist atemlos. Jeder will wohin. Jetzt. Und so klingt das Hupen: ich will da jetzt durch. Dann gibt es ein zweites Hupen: ein stolzes Hier-bin-ich. Die Fahrradfahrer nutzen dazu die Klingel, die Motorradfahrer und die Lenker der Tuk Tuks dieses quäkende Tröten. Dieses Hupen ist weniger aggressiv. Es soll sagen: also gleich bin ich bei dir, gehe mal besser zur Seite, ich fahre dir aber nicht über die Füße. Das dritte Hupen ist das arrogante, kurze. In der Regel ein klimatisierter SUV mit Lederausstattung und Fahrer vorne und keine verdunkelten Scheiben hinten, weil man gesehen werden will. Nicht ganz so selten. Dieses Hupen ist kompromisslos und machtvoll, distanziert. Da muss man zur Seite, wenn auch sehr widerwillig. Und dann das Hupen der Könige, der Busfahrer. Ein stotterndes Hupen, so fünfmal kurz hintereinander. Mehr ein Signal, ein „Gleich halte ich-steigt aus-steigt ein-es geht sofort weiter-macht mir Platz-Signal“. Dann gibt …