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3 x glauben: Ahnen, Bildung, Wohlstand

Wie nah können wir einem Land, einer Kultur, den Menschen auf unserer Reise kommen? Wie viel können verstehen, wenn wir gerade mal für einen Monat eintauchen?

Mich beschäftigt immer wieder die Frage, woran Menschen hier glauben, welche Kräfte diese Kultur treiben und welche Werte?

Und mir scheint, dass drei zunächst unterschiedlich anmutende Aspekte in Vietnam zu einer ganz eigenen kulturellen Mischung geführt haben.

Da ist einmal die in der familiären Tradition tief verwurzelte Ahnen-Verehrung, dann – seit über einem Jahrtausend als Basis – der Konfuzianismus mit dem Glauben an die Kraft von Bildung und schließlich – aktuell sehr stark ausgeprägt – der Glaube an einen weiter wachsenden Wohlstand. 

Über die Ahnenaltäre in den Wohnungen und Häusern habe ich schon in dem Beitrag über das Neujahrsfest geschrieben. 

Zur Ahnenverehrung gehören auch die Friedhöfe und die schön gestalteten Gräber, die zum Teil mitten in den Reisfeldern liegen, immer nach Osten ausgerichtet, so dass die Verstorbenen der aufgehenden Sonne entgegen blicken können. Zum Neujahrsfest werden die Gräber mit Blumen geschmückt und Räucherkerzen angezündet.

Während die Ahnenverehrung eine Verbindung in die Vergangenheit darstellt, ist der Glaube an die Bildung in die Zukunft ausgerichtet.

Allgegenwärtig sind die Schulgebäude in Vietnam. Sie sind oft nach demselben architektonischen Muster in Form eines U angelegt. Der Schulhof in der Mitte der meist drei- bis vierstöckigen Gebäude ist in der Regel gepflastert, hat vielleicht noch ein paar Bäume. Die Gebäude sind in einem sandgelben Farbton gestrichen. Ein Tor führt auf das Gelände und zu den Feiertagen wird die Schule mit Spruchbändern, mit bunten oder den roten Fahnen geschmückt.

Von allen asiatischen Ländern hat Vietnam in den letzten Jahrzehnten eine beeindruckende Aufwärtskurve hingelegt, was die Alphabetisierungsrate anbelangt, sie liegt mittlerweile bei 94,5%. Staatliche Schulen können kostenfrei besucht werden. Allerdings gibt es, ähnlich wie in Indien, schon auf dem Weg durch die ersten 5 Jahre eine hohe Verlustrate, weil viele Eltern mit geringem Einkommen weder die Schuluniformen noch die Materialien zahlen können und ihre Kinder außerdem auf dem Feld gebraucht werden. 

Und trotzdem haben wir den Eindruck, dass in der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung mit dem Glauben an den sich mehrenden Wohlstand viele Eltern hart arbeiten, damit ihre Kinder die Schule besuchen können. Daran gekoppelt ist allerdings, dass Disziplin und Leistungen erwartet werden. Kinder und Jugendliche haben nicht nur morgens, sondern auch nachmittags Schulunterricht. Dazu kommen oft noch Nachhilfe oder weitere Bildungsangebote.

Bildung hat eine sehr lange Tradition in Vietnam. In Hanoi haben wir den Literaturtempel „Van Mieu“ besucht. Der im Jahr 1070 ursprünglich zur Verehrung von Konfuzius angelegte Tempel wurde zur ersten Universität von Vietnam.

Kurz zu Konfuzius: (551-479 v.Chr.)

Er war ein chinesischer Lehrer, Philosoph und politischer Theoretiker. Konfuzius betrachtete Bildung als einen lebenslangen Prozess. Er wird bis heute als Vorbild und Ideal verehrt.

Bis 1915 wurde im Literaturtempel gelehrt und gelernt, die gesamte Bildungselite wurde hier ausgebildet. Auf über 80 Steinstelen, die von Schildkröten getragen werden, stehen die Namen aller eingemeißelt, die hier einen Doktortitel erworben haben. 

Heute ist „Van Mieu“ nicht nur ein Ort geworden, den sämtliche Schulklassen besichtigen, sondern er ist vor allen Dingen Kulisse für Fotos in traditioneller Kleidung und für Selfies.

Und hier noch ganz speziell für meine Schulkolleg:innen in Deutschland: Der Lehrer:innenberuf ist in Vietnam gesellschaftlich sehr angesehen. Es gibt sogar einen Feiertag, der den Lehrer:innen gewidmet ist.

Allerdings lastet man es den Lehrenden an, wenn Schüler:innen in Prüfungen schlechte Leistungen erbringen. Hat die Klasse einen überdurchschnittlich gutes Ergebnis erzielt, bekommt die Lehrkraft eine Auszeichnung als „Exzellenz-Lehrer:in“. Und diese Symbolik und der Ruf zählen in Vietnam sehr viel. Es heißt, dass aus diesem Grund Lehrer:innen immer wieder die Spickzettel ihrer Schüler:innen übersehen.

Insgesamt versucht der vietnamesische Staat, seine Lehrer:innen bei der Stange zu halten. Es gibt zwar ein landesweit einheitliches Curriculum (wie viel kommunistische Einflussnahme auf die Inhalte dabei ist, konnte ich nicht herausfinden), aber aufgrund der Forderungen aus der Wirtschaft nach Persönlichkeiten, die selbstständig denken können und teamfähig sind, wird Lehrenden mittlerweile gestattet, auch andere Unterrichtsmethoden als Frontalunterricht anzuwenden. 

Wer bereit ist, in entlegene Gegenden zu gehen um dort zu unterrichten, bekommt ein höheres Gehalt. Dennoch sind die Lehrer:innen-Gehälter insgesamt deutlich niedriger als das, was man in der Wirtschaft verdienen kann, weswegen zunehmend Lehrkräfte in Unternehmen abwandern.

Der Glaube an einen wachsenden Wohlstand zeigt sich auch in dem ungeheueren Fleiß, mit dem die Vietnames:innen arbeiten. Es herrscht überall eine Atmosphäre von „schaffe, schaffe…“

Gebäude, Häuser und breite Straßen werden überall gebaut. Autos sind beliebtes Statussymbol.

Wohin das alles führen wird?

Die Landflucht wird vermutlich anhalten, eine städtische Bildungselite wird wirtschaftlich aufsteigen, höhere Mietpreise, verstopfte Straßen, dicke Luft. Und wer weiß, ob der Respekt für die Alten verloren geht und die Verbindung zu den Ahnen mit dampfenden Räucherstäbchen irgendwann nur mehr leeres Ritual sind?

Zu pessimistisch gedacht?

Die letzten beiden Abende haben wir in einem Restaurant um die Ecke gegessen. Im Speiseraum stand hinten ein Bett, auf der Bettkante saß eine alte weißhaarige Frau. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und schaute dem Treiben im Restaurant zu. Irgendwann legte sie sich hin und schlief.