Jedes Kind in Japan kennt den Kinkaku in Kyoto, den Goldenen Pavillon.
Mich fasziniert der Kinkaku seit meiner Ankunft. Er ist der erste Tempel, den ich besucht habe. Aber ich war nach meinem ersten Besuch einfach noch nicht fertig mit ihm.
Mit mir strömten Tourist:innen aus aller Welt auf das Gelände. Es gibt einen Rundgang und Schilder mit dem Hinweis „No Return“. Ich schwimme in der Menge mit, eine Annäherung aus dem Augenwinkel, mehr ging nicht.

Der „Goldene Pavillon“ heißt auch ein Buch von Yukio Mishima, übersetzt von Ursula Gräfe.
Während die Amerikaner das Stadtgebiet von Tokio ab Ende 1944 bis August 1945 zur Hälfte zerstörten, die Luftangriffe waren verheerend, blieb Kyoto verschont. Dadurch überlebte der Kinkaku den 2.Weltkrieg unversehrt.
Fünf Jahre nach Kriegsende jedoch wurde der Kinkaku von einem jungen Studenten in Brand gesteckt – eine weitere nationale Katastrophe.
Das Buch von Yukio Mishima erzählt die Geschichte dieses Brandstifters, der Mönch werden sollte und deshalb Jahre vorher auf dem Gelände des Kinkaku lebte. Yukio Mishima hat diesen Mann für seinen Roman auch im Gefängnis besucht, um zu verstehen.
1970 in Tokio:
Am 25. November 1970 drang der Autor Yukio Mishima mit vier weiteren ins Militärhauptquartier in Tokio ein, nahm den Kommandanten als Geisel und trat in einer Phantasie-Uniform auf den Balkon.

Er erklärte das Parlament für aufgelöst, wollte die politische Gewalt an den japanischen Kaiser übertragen. Doch von den Soldaten kamen nur Pfiffe.
Yukio Mishima trat zurück ins Zimmer, wo er sich ein Kurzschwert in den Bauch stiess. Sein Liebhaber sollte ihm, als Sekundant beim Seppuku, nun mit einem Samuraischwert das Haupt abschlagen. Er war dazu nicht in der Lage.
Mishima hatte seinen Suizid minutiös vorbereitet und wohl nie wirklich mit einem Gelingen dieses Putches gerechnet.

Yukio Mishima beschreibt im „Goldenen Pavillon“ den Brandstifter als einen Menschen, der nicht in sein Leben passt. Eine Todessehnsucht schwingt bereits in den ersten Zeilen des Buches mit. Die langsam aufsteigende Faszination für das Böse, geschrieben in sehr poetischer Sprache, nimmt mir beim Lesen fast die Luft.
Die moderne Zivilisation sickert in den Alltag des Lebens am Kinkaku, für den jungen Mann Gift in kleinen Dosen.
Der glänzende Pavillon wird zu einem Symbol der Erotik, der Verführung für den jungen Studenten, der Mönch werden soll. Er wird zunehmend moralisch und auch sexuell verwirrt, seelische Abgründe tun sich auf und er gleitet in eine Verblendung, in eine Selbstüberschätzung.

Yukio Mishima beschreibt faszinierend den Weg einer Radikalisierung mit fatalen Zerstörungskräften. Eine Suche nach dem Absoluten, auch nach der vermeintlich absoluten Schönheit. Es geht um die Entstehung von Faschismus, in der abgeschlossenen Welt des Kinkaku, wie in einer Blase.
Heute entdecken die europäischen Rechtsextremen den Autor Yukio Mishima für sich. Seine Übersetzerin Ursula Gräfe sagt, daß die Strategie der Rechtsextremen darin bestehe, rechtspopulistische Positionen mithilfe einer literarischen Ikone wie Mishima salonfähig zu machen.
In seinen Büchern schreibt Yukio Mishima über Jungs, die stolz auf ihr hartes Herz sind. Über junge Männer, die feste Vorstellungen von Ruhm, Ehre, richtig und falsch haben, sich unter Freunden in Gefühlslosigkeit üben und Frauen hassen. Es geht um den erhabenen, heldenhaften und beispiellosen Tod vor aller Augen. In seinen Essays warnt er vor der Verwässerung der japanischen Kultur durch den Westen und feiert den japanischen Kaiser.
Als ich gestern im „Kazenone“ sitze und an diesem Text schreibe, frage ich die Menschen um mich herum am Tresen nach Yukio Mishima.
Der Blick wird sofort wach. So ein „Puh-Blick“, „gehts nicht einfacher?“
„Ein toller Schriftsteller“, „einer, der sich früh getraut hat, seine Homosexualität offen zu leben“, „ein Nationalist“; „eine Ikone“, „Genie und Wahn“, „hätte fast den Nobelpreis bekommen“, „Globalisierungskritiker“, höre ich.
Und: „Einer, der auch die introvertierte, einsame, zerstörerische Seite der japanischen Kultur beschrieben hat.“
„Und er hat über den Kinkaku geschrieben, da mußt du unbedingt hin.“
Morgen fahre ich ein letztes Mal und verabschiede mich.