An „Quijote“, dem Ritter von der traurigen Gestalt, kommt man nicht vorbei. Der Roman von Miguel de Cervantes ist die Sichtweise Spaniens seiner selbst. Fast jede Überlegung zu Spanien sieht zunächst beim „Quijote“ vorbei. Auch deshalb stehen Don und Sancho Panza noch immer in etlichen Vorgärten.
Es heißt ja, dass die Spanier:innen die Menschen retten müssen, die da in der glühenden Hitze der öden Ebene vor sich her schmoren, im sogenannten leeren Spanien, in der Provinz. Es brauche dort Autobahnen, Kreisverkehr, Reihenhäuser mit bodentiefen Fenstern, Supermärkte, Stauseen, Entwicklung, Wachstum… Diese leere Landschaft sei ein zu lösendes Problem. Und diese Provinz wird oft verachtet wie im „Quijote“, auch von den Menschen, die dort leben. Heißt es.
Es gibt das herrliche Buch „Der Hipster von der traurigen Gestalt“ von Daniel Cascón. Die Geschichte:
Ein Hipster aus Madrid will im Auftrag der Regierung in einem Dorf im leeren Spanien „den organischen Zusammenhalt und die tiefe Verbundenheit aller Lebewesen untereinander sowie mit ihrer Umgebung stärken, ausgehend vom Respekt zwischen den Geschlechtern und Arten und einer auf kollaborativer Horizontalität gegründeten, nachhaltigen Entwicklung, die eine dynamische Wechselbeziehung zwischen Althergebrachten und Modernen abseits der tyrannischen Triebkräfte des Spätkapitalismus, dessen operative Logik sich verheerend auf den Planeten und die Menschheit auswirke, ermöglichen könnte.“
„Und warum das alles?“, würden sie wohl in Aniñón fragen. Auch deshalb schreibe ich jetzt nochmal über das Dorf Aniñón.

Eine Warnung vorab: Ich lebe in einer Großstadt und das seit 60 Jahren, mit wenigen kurzen Unterbrechungen. Hier schreibe ich über ein Dorf. Also Vorsicht ist geboten, beim Lesen – vor der Romantik, den Klischees, der Ahnungslosigkeit und dem Kitsch eines Städters.
Die Älteren von euch kennen sicher noch die Werbung für Fairy Ultra aus den 90ern: Villarriba (das Dorf oben) und Villabajo (das Dorf unten) sind in dem Spot zwei spanische Dörfer, die in einem Wettkampf Paellapfannen schrubben. Und dass Villariba gewinnt – wegen der neuen Fettlöseformel.
Auch Aniñón hat ein Villarriba und ein Villabajo, verbunden durch eine Brücke.

Diese Brücke ist ein kommunikatives und soziales Wunder, das die Menschen in Aniñón zusammenführt. Denn über diese Brücke muss jeder und jede in Aniñón, auf dem Weg zur Bank, zum Bäcker, zur Bar, zum Fleischer, zu der kleinen Schule, der Polizei, zum Fußballplatz… . Auf der Brücke hört man ein ständiges „Hola“ und „Buen día“, ein Lachen. Kaum jemand kommt schnell über diese Brücke. Manche stoppen vier Mal und führen kurze und lange Gespräche. Hier begegnet man auch denen, die man nicht so mag. Und man kann nicht ausweichen, es sei denn mit einem Sprung. Das wäre wohl in der Regel übertrieben. Könnte ich ein ideales Dorf auf dem Reißbrett entwerfen, hätte es solch eine Brücke.






Überhaupt findet das Leben in Aniñón scheinbar auf der Straße statt. Die Straße ist nicht nur ein Ort, um von A nach B zu kommen, sie führt irgendwann über einen Platz.
Die Menschen in Aniñón gehen nicht nur aus dem Haus, um irgendwo anders hinzukommen. Man „geht raus auf die Straße“ und trifft Menschen, auf der Brücke oder auf den Plätzen an den beiden Enden der Brücke….




Aniñón ist ein Dorf aus zusammengedrängten Häusern in verschachtelten Gassen, ein verschlungenes Labyrinth. Wie alle Dörfer hier. Die Häuser rücken zusammen, versammeln sich um den Kirchturm, gegen die scheinbar unendliche Weite, Menschenleere und Hitze da draußen. Und auch die Menschen scheinen zusammenzurücken, jung und alt.


Es gibt hier keinen Wochenmarkt, anders als in Frankreich, weil die spanische Landwirtschaft und Viehzucht auf riesigen Flächen und im Intensivanbau für den Großhandel oder den Export produziert, auch ein Erbe der Franco-Zeit.

Aber dennoch leben die Plätze. Man trifft sich auf einen schnellen Cortado, Flaschenbier von Ambar ist gerade in, es gibt Radler (heißt auch hier so), Bitter Kas, Fanta lemon, dazu Oliven, Tapas… Die Bar „Navarro“ ist das Zentrum.

Hier parkt man mit dem Traktor vor der Bar, auf dem Weg zum Feld.


Wenige ausländische Reisende machen sich auf den Weg ins Innere der Iberischen Halbinsel. In den zwei Monaten hier in Calatayud, Torralba de Ribota und Aniñón haben wir einen deutschen Touristen getroffen.
Wir haben uns zunächst gefragt: Wer lebt hier? Und warum? Die Hitze im Sommer und die klirrende feuchte Kälte im Winter? Sind das nicht Dörfer, die auch bald verschwunden sein werden?
Unsere Reise in das leere Spanien wurde eine Erfahrung in eine faszinierende und unverhoffte Welt. Karge Landschaften, Wüsten, öde Gebirge, herrliche Wälder, Dörfer an unmöglichen Stellen und vor allem warmherzige, interessierte, offene Menschen.
In den letzten Jahrzehnten verschwanden in Spanien tausende Dörfer und/oder verwandelten sich in Altersheime. Mit Blick auf Aniñón ist das nicht zu verstehen. Hier kann man so richtig gut leben. Auf den ersten Blick.
