Ein Experiment, wie Gemeinschaft gelebt werden kann, das ist Auroville. Eine wachsende Stadt, in der heute etwa 3500 Bewohner:innen aus über 60 Ländern leben – jedes Jahr kommen etwa 100 neue hinzu.
Die besondere Kraft und Stille im Matrimandir konnten wir ja schon bei unserem ersten Besuch genießen, auch die umliegenden Gärten und den riesigen Banyan-Baum.
Jetzt sind wir mit unserem Moped noch mal hin gefahren, um weitere Eindrücke zu sammeln, was gar nicht so leicht ist, denn das Gelände ist weitläufig und die Aurovillianer:innen wohnen in kleinen verstreut liegenden Siedlungen. Es gibt keine Grenze, keine genaue Ausschilderung, wo Auroville beginnt. Vermutlich sind wir immer im Gebiet der Gemeinschaft, wenn es keinen Müll und solide bis architektonisch anspruchsvoll gebaute Häuser gibt.
Aber noch mal kurz an den Anfang zurück: Sri Aurobindo, indischer Philosoph, Politiker, Mystiker und Yogi gilt als geistiger Vater von Auroville. In seiner Gesellschaftstheorie entwickelte er die Idee einer „universellen Stadt“. Seine Vision: persönliche spirituelle Entwicklung und ein solidarisches Miteinander, in dem Nation, Geschlecht, Religion und Geld keine Rolle spielen sollen.
Mirra Alfassa – von allen „die Mutter“ genannt – ist die Gründerin von Auroville.
Sie muss eine charismatische Frau gewesen sein und wird bis heute von den Inder:innen als Guru verehrt. 1966 gelang es ihr, nicht nur die Unterstützung des indischen Staates, sondern auch die der UNO für Auroville zu gewinnen.
1968 kamen zur Einweihungszeremonie Vertreter:innen aus 124 Nationen angereist. Die 89jährige Mirra Alfassa verlas die vier Punkte der Auroville-Charta:
1. Auroville gehört niemandem im besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit. Aber um in Auroville zu leben, muß man bereit sein, dem Göttlichen Bewusstsein zu dienen.
2. Auroville wird ein Ort ständiger Lernbereitschaft und ständigen Fortschritts sein und auf diese Weise der Schauplatz eines Lebens, das seine Jugend bewahrt.
3. Auroville möchte eine Brücke sein zwischen Vergangenheit und Zukunft. Indem es sich alle äußeren wie inneren Entdeckungen zunutze macht, wird es sich mutig zu künftigen Verwirklichungen hin entwickeln.
4. Auroville wird ein Platz spiritueller und materieller Forschung sein, damit eine wirkliche menschliche Einheit lebendige Gestalt annehmen kann.
Die Charta diente insbesondere den Pionier:innen der ersten Generation als kraftvolle Vision und als grundlegender Wegweiser – und das war notwendig, denn auf den Bildern der Anfangszeit sieht man nur eine Hochebene, rote Erde, tiefe Krater von den Regenfällen in der Monsunzeit, keine Flora, nichts. Während wir mit dem Moped über die nur teilweise gepflasterten Wege fahren, ist das kaum zu glauben, so grün, wie es jetzt hier ist. Bis heute wurden über 2 Millionen Bäume von den Aurovillianer:innen gepflanzt. Gleichzeitig hat die Gemeinschaft sich intensiv mit einem ökologischen Umgang mit Wasser auseinandergesetzt und durch klug angelegte Dämme und Wasserauffangbecken dafür gesorgt, dass die Erde durch den Monsunregen nicht weiter ins nahe gelegene Meer gespült wird.
Die Menschen von Auroville sind kreative Vorreiter:innen in vielen Bereichen, von der nachhaltigen Energiewirtschaft über Bauökologie bis zu ökologischer Landwirtschaft, von der Heilkunde bis zur Pädagogik. Und sie erforschen auch mögliche Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.
Auf unserem Weg durch Auroville finden wir nach einiger Suche schließlich die „Solar Kitchen“. In der zentralen Küche werden jeden Tag 1200 Mahlzeiten gekocht.
Auf der Dachterasse gibt es ein schönes Café, das wir zwar anschauen, aber leider nicht nutzen können, da man mit Geld in Auroville nicht weiterkommt.
Jede:r Bewohner:in bekommt ein monatliches Grundeinkommen. Innerhalb der Gemeinschaft soll es keinen Bargeldfluss geben, man nimmt sich z. B. im Supermarkt „pour tous“ was man braucht, es gibt Kleiderläden, in denen Sachen getauscht werden und man kann sich in der Solar Kitchen zum Essen anmelden.
Wir haben auch Hunger und fahren zum Visitors Center, dort gibt es neben einer Informationsausstellung mehrere Restaurants, in denen wir auch mit Geld bezahlen können, wie die anderen durchschnittlich 2000 Besucher:innen, die täglich nach Auroville kommen und hier sehr kompetent auf Pfaden durchgeschleust werden.
Wir hören auf einmal Tango-Musik, ein paar Schritte weiter gibt es eine überdachte große runde Tanzfläche, auf der sich etwa 30 Paare bewegen und die für das nächste Stück von einer hinreißenden Lehrerin zu folgendem Experiment eingeladen werden: nur 7 Schritte während des gesamten Tanzes… allgemeines Stirnrunzeln… wie soll das gehen? Wenn da nicht Hingabe gefragt ist…
Kunst spielt ein wesentliche Rolle in dieser Gemeinschaft, als Kreativitätsfaktor und als Erfahrung des Göttlichen in der Schönheit von Natur und Kultur. Es gibt viele Ausstellungen, Konzerte und Möglichkeiten, selbst mitzumachen.
Viele, die aus der ganzen Welt nach Auroville gekommen sind, um an der Gestaltung eines anderen Lebens mitzuwirken, haben sich hier ein Haus gebaut, das sie zwar bewohnen können, das ihnen aber nicht gehört. Alle festen und beweglichen Güter gehören der „Auroville Stiftung“.
„Mach doch, was du willst“, dieser Satz hat in Auroville eine zentrale Bedeutung. Tatsächlich wird von jedem Mitglied erwartet, dass er oder sie an sechs Tagen der Woche etwa vier Stunden für die Gemeinschaft arbeitet. Aber was, das liegt in der freien Entscheidung des Einzelnen.
Viele Menschen, die sich in Auroville niedergelassen haben, tun hier ganz andere und auch immer wieder wechselnde Dinge, als die Berufe, die sie ursprünglich gelernt oder studiert haben.
Einige haben Unternehmen in den verschiedensten Branchen in Auroville gegründet, die sich auch über die Region hinaus etabliert haben. Die Bewohner:innen von Auroville müssen keine Steuern an den indischen Staat zahlen, aber 30% der Nettoeinnahmen aus ihren Firmen gehen an die Stadt. Natürlich kann hier jede:r klein anfangen.
Und dann gibt es auch die Einwohner;innen, die sich garnicht einbringen. Ausgestattet mit eigenem Vermögen beziehen sie kein Grundeinkommen – sehen insofern auch keine Veranlassung, ihre Fähigkeiten zur Gemeinschaft beizusteuern. Da es keine Kontrolle gibt, können also recht unterschiedliche Auffassungen nebeneinander existieren, führen aber auch immer wieder zu Auseinandersetzungen unter den Bewohner:innen, wie Auroville sich entwickeln soll.
Architektin: Anupama Kundoo
Die Belange der Stadt werden in basisdemokratischer Selbstverwaltung bearbeitet und entschieden. Falls du auch in ähnlichen Strukturen arbeitest, kannst du dir vermutlich leicht vorstellen, dass es auch in Auroville oft lange Aushandlungsprozesse sind, bis Entscheidungen im Konsens gefällt werden können. Es gibt einen auf 4 Jahre gewählten Vorstand und ein sogenanntes Aktivgremium, die Leitungsfunktion haben, darüber natürlich jede Menge Arbeitskreise zu den verschiedenen Themen.
Wie in jedem wachsenden sozialen Organismus kommt es auch in Auroville zu Spannungen und Differenzen zwischen Einzelnen, Gruppen und Generationen. Und es bleibt spannend, wie dieses schon bald 60 Jahre lebendige Experiment weiter entwickelt wird.