Falls du gerade viel zu tun hast und den Beitrag mal eben zwischendrin lesen wolltest, wäre ein Moment mit etwas Raum und Zeit besser geeignet.
Ich würde ausnahmsweise gerne mal mit einem Experiment starten. Und dafür bräuchte es eine kleine gedankliche Aktivität von dir.
Mal angenommen du wärst Architekt:in und würdest jetzt in deiner Vorstellung einen Raum entwerfen, in dem es dir möglich ist, dich vollkommen zu konzentrieren. Also einen Ort, an dem du sein kannst und es in dir still wird.
Kannst du dieses Gebäude in deiner Vorstellung einmal entstehen lassen?
Wie geht der Weg dorthin und wie betrittst du diesen Raum? Wie ist er? Wie groß stellst du ihn dir vor?
Welche Form hat er und aus welchem Material ist die Begrenzung des Raumes?
Wie ist der Innenraum ausgestaltet? Wie ist das Licht?
Wie ist die Luft und welche Temperatur fühlst du?
Was würde noch dazu beitragen, dass du dich in diesem Raum vollkommen konzentrieren kannst?
Wenn du ein inneres Bild hast, dann geht es jetzt noch einen Schritt weiter:
Mal angenommen, dieser Raum wäre nicht nur für dich, sondern auch für etwa 50 andere Menschen, würdest du noch etwas ändern? In der Vorstellung geht das ja recht flexibel, falls du den Raum vergrößern oder anderweitig noch ausstatten willst.
Wo befinden sich die anderen Personen im Raum?
Wodurch gelingt es in deiner Version, dass eine dichte und konzentrierte Atmosphäre entsteht?
Es würde mich sehr interessieren, welches innere Bild in den letzten Minuten bei dir entstanden ist…
Warum das ganze Experiment?
Weil wir gerade einen Ort besucht haben, der als Ganzes ein gesellschaftliches Experiment ist und in dessen Zentrum ein Gebäude steht, das in seiner gesamten Gestaltung eine einzige Einladung ist, darin still zu werden und sich zu konzentrieren. Man könnte auch sagen zu meditieren.
Jetzt aber die Geschichte von Anfang an:
Dass dieser Besuch zu einer so intensiven Erfahrung wurde, hat für mich einerseits mit der Idee für den Ort Auroville zu tun und andererseits mit der sehr klaren Hinführung unserer bunt gemischten Gruppe zu diesem Raum und in die Konzentration.
Das beginnt schon mit der Anmeldung, die für den Besuch des „Matrimandir“ mindestens einen Tag vorher über die Website notwendig ist. Für 8:30 Uhr war unser Zeitslot angesetzt und mit einer Nummer ausgestattet, standen wir mit ca. 50 anderen Menschen am Besuchereingang von Auroville und durften als erstes einen kurzen Film über Sri Aurobindo und Mirra Alfassa, die Gründungspersönlichkeiten von Auroville sehen. Eine gute Einstimmung, dazu im zweiten Teil noch mehr.
In der folgenden Begrüßungansprache wurde deutlich gemacht, dass alle ihr Handy am Eingang abgeben müssen, nichts soll die Aufmerksamkeit ablenken. „Stay in silence and concentrate yourself.“ Mit dem Bus wurden wir zum Matrimandir gefahren.
Ohne Handy… keine Photos!
Hier also nur ein Bild der äußeren Gestalt des Matrimandir aus dem Netz, und für alles weitere ist deine Vorstellungskraft noch einmal gefragt.
Beeindruckend war schon der Gang in Stille auf diese goldene Kugel zu und dann der abwärts führende Weg bis unter das Gebäude. Stell dir vor, wie sich genau in der Mitte ein Brunnen in Form einer flachen Schale befindet, deren einzelne weiße Marmorplatten wie Blütenblätter im Kreis angeordnet sind, der Lotusbrunnen.
Überall stehen Helfer:innen, die mit ruhigen Gesten den Weg weisen. Während die meisten unserer Gruppe sich im Schneidersitz im Kreis um den Brunnen niederlassen sollen, werden Tho und mir zwei Plätze auf einer Bank in der zweiten Reihe zugewiesen. Ok, vermutlich eine Würdigung unseres gehobenen Alters, aber wir sind natürlich beide innerlich konsterniert, dass man denkt, wir bräuchten schon eine Bank… echt?… aber wir sollen uns ja konzentrieren… also… man hört nur das leise Fließen des Wassers und ein paar Vögel im Hintergrund, ein kühler Luftzug im Nacken.
Ein kurzer Zimbelton gibt nach etwa 10 Minuten das Zeichen, den Weg fortzusetzen. Eine aufsteigende Treppe führt in das Matrimandir. Rechts und links Geländerwände aus rotem Stein – es hat etwas Erhabenes, sich der goldenen Kugel Schritt für Schritt zu nähern.
Innen führt eine spiralförmig sich durch den Raum erhebende Treppe zum „inneren Raum“, dem Zentrum des Matrimandir. Vorher müssen aber noch bereitgestellte weiße Socken angezogen werden, und ganz wichtig, lange Hosen müssen in die Socken rein gestopft werden für stille Schritte. All das geschieht lautlos, nicht nur, weil alle sich Mühe geben, sondern weil die Aufmerksamkeit der Wegweiser:innen alle im Blick behält und weil der weiche Teppich auf dem Weg sowie das gedämpfte warmgoldene Licht für eine sehr besondere Atmosphäre sorgen. Dazu verströmt eine Öllampe feinen Sandelholz-Duft.
Eine hohe Tür, wir betreten den „inneren Raum“, er ist rund und so hoch, dass im Dämmerlicht die Decke nicht klar erkennbar ist. In der Mitte steht eine durch ein Deckenloch beleuchtete Kristallkugel, zwölf Säulen bilden um sie herum einen Kreis, ein dicker weißer Teppich bedeckt den Boden und außen liegen Sitzkissen. Angenehme Luft.
Dort sitzen. Ganz für mich und gemeinsam mit anderen. Es gibt nichts zu tun.
Einatmen – kühle Luft – ausatmen – warme Luft.
Eine so vollkommene Stille, sie dehnt den Raum aus.
Leere und Präsenz.
Ein gemeinsames Feld von Aufmerksamkeit – ein Faden im großen Gewebe sein.
Endlos, verdichtet und geweitet…
Zeitlos…
… bis ein kurzes Hellwerden des Raumes das Zeichen gibt, dass die Konzentrationsphase vorbei ist.
Der Rückweg beginnt: leisen Schrittes aus dem inneren Raum, die zweite spiralförmige Treppe hinabwandeln, die Socken in vorbereitete Behältnisse legen, das Matrimandir verlassen, die Treppen hinabsteigen bis hin zu den abgestellten Schuhen.
Wer mag, kann noch unter dem riesigen Banyan-Baum neben dem Matrimandir für eine Weile sein und den Schatten genießen. Wir sitzen hier, ehrfürchtig und beeindruckt von der Weite der Stille und der Schönheit des Baumes.
Und gleichzeitig wird deutlich, wer von unserer Gruppe am Ende seiner Schweige-Kapazitäten angelangt ist und nur darauf wartet, endlich wieder sprechen zu dürfen. Flüsternd geht es los…
…während mein Bedürfnis nach Stille noch nicht gestillt ist.
Ich gehe noch einmal hinab zum Lotusbrunnen. Von dort gibt es sechs Wege, die zu zwölf kleinen Meditationsräumen führen, die in den Petals, den aus rotem Stein gemauerten Blütenblättern liegen. Jeder Raum ist einem Thema gewidmet. Ich nehme den erstbesten Weg zur „Dankbarkeit“ und finde mich, nach einem kurzen Gang in das Petal hinein, in einem hellgrün leuchtenden Raum. Oh! Wunderschön! Fast schwerelos scheint eine Sitzebene in die Kugel gelegt, das indirekte diffuse grüne Licht löst alles Feste auf. Eine aus sich schimmernde Scheibe schwebt und schenkt einen Fokus für die Aufmerksamkeit.
Hier einsinken. Abtauchen. Auflösen…
Zum Abschluss noch mal zu deinem Experiment: gab es irgendeine Ähnlichkeit zu dem von dir vorgestellten Gebäude oder Raum?
Und über das Experiment Auroville folgt noch ein Beitrag.