Ach, unser Dorf, unser Torralba de Ribota ist eine Liebe auf den ersten Blick. Zum Glück liegt es nicht, wie andere Dörfer direkt an der Nationalstraße, sondern hinter einem Hügel versteckt. Der schönste Moment ist der, wenn wir mit dem Auto um die Kurve kommen und dann liegt es da.

Das höchste Bauwerk ist die im Verhältnis zum restlichen Dorf unfassbar große Kirche, die hier schon seit dem 14. Jahrhundert steht. Und weiter rechts der Torre Alba, der weiße Turm, genauso lange schon am Ort und Namensgeber für das Dort, das in der Nähe des Flusses Ribota liegt.



Um die Kirche San Felíx scharen sich die Häuser, alle mit den typisch rostroten Ziegeldächern, mit kleinen Fenstern, die meistens keinen Blick nach innen gewähren, weil ewig die Rollos herunter gelassen sind. Ein Netz enger Gassen, die meist menschenleer sind. Gelegentlich wird gefegt, also auch hier! (Eine kleine Verbindung zu Asien, wo das Fegen ja so allgegenwärtig war.)


Wenn wir bei den Wohnhäusern bleiben, dann ist typisch, dass um die Fenster herum der Rahmen farblich abgesetzt wird, und vor den Türen hängen entweder Stoffvorhänge oder im Wind klappernde Perlenvorhänge. Außerdem stehen oft 5 l Wasser Plastikkanister im Türeingang. Wieso das so ist, haben wir bis jetzt noch nicht herausfinden können.


Erstaunlich ist auch, wie viele Parkbänke in Torralba aufgestellt sind, fast in jeder Gasse und dazu noch am Dorfrand.

Natürlich gibt es auch Plätze in Torralba. Natürlich eine „Plaza España“ wie überall in Spanien. Jetzt, zum Osterwochenende stehen hier viele Autos, anscheinend sind alle Kinder und Enkelkinder für die Feiertage hierhergekommen.
Das macht sofort einen großen Unterschied, auch in unserer Dorfbar, in der über die Feiertage reges Treiben herrscht. Beeindruckend für das kleine Dorf finde ich die Öffnungszeiten: jeden Tag von 9:00 bis 22:00 Uhr, am Wochenende sogar bis Mitternacht.



Es gibt hier alles, was man sich in einer spanischen Dorfbar wünscht, von Kaffee über Bier und Schnaps bis hin zu Tapas und üppigen Mahlzeiten. Im goldgelben Barraum läuft beständig der Fernseher, dazu noch die Musikbox und alle reden unentwegt miteinander.
Draußen stehen dann weitere Tische in einem Innenhof, an der einen Seite mit Bühne ausgestattet für die Dorffeste, die in regelmäßigen Abständen hier stattfinden.



Die Kirche San Felíx ist normalerweise immer geschlossen, aber zu Ostern ist sie geöffnet und wir konnten einen ersten Blick hinein werfen. Jetzt mal kurz kunsthistorisch. Diese Kirche ist ein seltenes Juwel: Sie ist im Mudejarstil erbaut, d.h. eine für diese Gegend spezielle Backsteinarchitektur, in der christliche und maurische Architekturelemente miteinander verbunden wurden. Da gibt es die Spitzbögen und die Ausgestaltung mit Kacheln aus dem Maurischen und dazu die christlich tradierte Bauform mit dem Hauptschiff und den Türmen.


Was mich aber erschüttert hat, war ein Bild, das in der Kirche hängt. Selten habe ich ein so grausame Szene in einem religiösen Bild gesehen.

Mit ein wenig Recherche konnte ich zumindest herausfinden, dass es sich hier um die heilige „Agatha von Catania“ handelt, die circa 200 nach Christi gelebt haben soll und von der die Legende geht, dass sie sich dem Werben des damaligen römischen Statthalters Quirinius wiedersetzt habe. Darüber verärgert, lies dieser sie foltern. Er wollte, dass sie dem Christentum abschwört und obwohl ihr die Brüste abgerissen wurden, hat sie das nicht getan. Oben rechts im Bild sieht man eine Darstellung des heiligen Petrus, dieser soll Agatha in der Nacht nach der Folter erschienen sein und ihre Wunden geheilt haben.
Ich wüsste so gerne, warum ausgerechnet in einem so kleinen Dorf wie Torralba ein Bild der heiligen Agatha von Catania hängt. Wie es dorthin gekommen ist und welche Bedeutung es hier hat. Falls es noch eine hat. Vielleicht finde ich jemanden, den ich fragen kann…


Zurück auf die Ebene der Tatsachen, die sich auf statistischen Datenseiten finden lassen: in Torralba leben heute 196 Menschen. Die Landflucht, die so kennzeichnend für das Kernland von Spanien ist, hat auch in diesem Dorf für Verluste gesorgt, um 1900 haben hier noch fast 700 Menschen gelebt. Heute liegt das Durchschnittsalter bei 58 Jahren. Von den hier lebenden 98 Männern und 71 Frauen sind gerade mal sieben unter 18 Jahren, 62 sind über 65 Jahre und der Rest befindet sich irgendwo dazwischen.
Laut der statistischen Seite im Netz zu Torralba gibt es aber weitere 520 Menschen, die zeitweilig im Dorf leben oder arbeiten. Also wie wir. Im letzten Jahr haben 261 Touristen das Dorf besucht.
Ich bin erstaunt, wie präzise sämtliche Zahlen, Daten und Fakten für so ein kleines Dorf erfasst werden. Unter anderem gibt es auch eine Statistik über die Hochzeiten in den letzten 25 Jahren und man kann sagen, im Durchschnitt wird jedes zweite Jahr eine gefeiert. Pro Jahr sterben in Torralba zwischen einer und sieben Personen, geboren werden deutlich weniger.

Unser Dorf gehört zum Projekt „Pueblos en Arte“, das von unserer Wohnungsvermieterin Lucía Camón mit initiiert wurde. Deswegen gibt es in Torralba Wohnungen für Künstler:innen, die als „Artist in residence“ für eine Weile in hier arbeiten. Außerdem stellt Lucía in ihrem Podcast verschiedene Menschen aus dem Dorf und Künstschaffende aus dem ganzen Land vor.
Mir gefallen die besonders gestalteten Häuser und Gärten.




Unser Dorf ist bis in die Kleinigkeiten liebenswert: dazu gehören der alte Wasserhahn auf der Plaza España ebenso wie die moderne Buchtauschstation und der dreimal pro Woche vorfahrende Bäcker.


Und das Schönste…
… es ist still in Torralba. Meist sind nur die vielfältigen Singvögel und der Wind zu hören. Das ist vollkommen! Genug!