Sashi Tharoor (geb. 1956) hat 2016 eine Abrechnung mit der Kolonialherrschaft der Briten veröffentlicht. Die Grundthesen seines Buches „Zeit der Finsternis“ hat er vor neun Jahren in einer Rede formuliert, die millionenfach geklickt wurde und in Indien mittlerweile Schulstoff ist.
Diese 15 Minuten (auf englisch) lohnen sich: https://youtu.be/f7CW7S0zxv4?si=KyYnRwWCvT9a_i08
Zweimal war ich bisher außerhalb von Europa. Mit meinem Sohn Levin in Namibia und jetzt in Indien, beides Länder mit heftiger kolonialer Vergangenheit.
In Namibia schien uns der Völkermord an den Hereros und Namas Teil der aktuellen politischen Diskussionen im Land zu sein: Die Zahlung von Reparationen bzw. Wiederaufbauhilfen durch Deutschland, die Rückführung von Raubkunst, die Rückführung von Gebeinen, die Entschuldigung von Deutschland durch Bundespräsident Steinmeier und die Anerkennung des Völkermordes. Die historische Bewertung der brutalen deutschen Herrschaft schien uns dabei im wesentlichen unstrittig.
In Indien scheint der öffentliche Diskurs an einer anderen Stelle zu stehen. Sashi Tharoor beschreibt die Folgen der britischen Herrschaft in Indien zwar nicht grundsätzlich neu, aber die Wucht ihrer Zerstörung und Vernichtung. Er wendet sich gegen Betrachtungen, die immer wieder die positiven Aspekte der britischen Herrschaft betonen.
Indien war, so Tharoor, eines der reichsten Länder der Welt, als die Briten gekommen sind, als sie gegangen sind eines der ärmsten. Das Land wurde ausgeblutet. Kritiker werfen Tharoor zwar vor, die vorkoloniale Zeit zu rosig zu beschreiben, stimmen ihm aber grundsätzlich zu.
Während der britischen Herrschaft sind die Menschen auf den Straßen verhungert. Allein im Zweiten Weltkrieg starben 4 Millionen Menschen, weil die Inder für England in den Krieg ziehen und Ressourcen für den Krieg bereitstellen mussten, was zu dramatischen Hungersnöten führte. Für die Zeit von 1880 bis 1920 gehen konservative Schätzungen davon aus, dass 100 Millionen Menschen in der Folge des Kolonialismus gestorben sind. Unfassbar. Mir war das in dieser Dimension nicht bekannt.
Die Engländer haben den Indern nicht die Kultur, Sprache, Eisenbahn und Gebäude gebracht, sondern den Tod.
Die Ostindien-Kompanie war eine äußerst brutale, gewissenlose und verbrecherische Organisation.
Und Punkt. Soweit Sashi Tandoor, sein Buch ist in Indien ein Bestseller.
Nun ist Kolonialismus ja keine abgeschlossene historische Angelegenheit, sondern eine noch gegenwärtige Struktur. Und wie Sashi Tharoor es ausdrückt: „Alles, was die Briten taten, hallt bis in unsere Zeit nach.“
Dazu:
In Kolkata haben wir das Museum für Indian Modern Art besucht. Nicht leicht zu finden. Keine Besucher außer uns. Man macht für uns das Licht an und hinter uns wieder aus. Zwei kleine Ausstellungsräume in einer Millionenmetropole für moderne indische Kunst.
Gegenüber dem Museum trohnt unschuldig weiß und kolonial, die Victoria Memorial Hall. Um sie herum eine Volksfeststimmung mit Zuckerwatte und co. – der touristische Mittelpunkt von Kolkata. Sashi Tharoor hat dem indischen Parlament vorgeschlagen, aus der Victoria Memorial Hall eine Gedenkstätte für die koloniale Zeit zu machen.