Monate: Dezember 2024

Ein Experiment…

Falls du gerade viel zu tun hast und den Beitrag mal eben zwischendrin lesen wolltest, wäre ein Moment mit etwas Raum und Zeit besser geeignet. Ich würde ausnahmsweise gerne mal mit einem Experiment starten. Und dafür bräuchte es eine kleine gedankliche Aktivität von dir. Mal angenommen du wärst Architekt:in und würdest jetzt in deiner Vorstellung einen Raum entwerfen, in dem es dir möglich ist, dich vollkommen zu konzentrieren. Also einen Ort, an dem du sein kannst und es in dir still wird. Kannst du dieses Gebäude in deiner Vorstellung einmal entstehen lassen? Wie geht der Weg dorthin und wie betrittst du diesen Raum? Wie ist er? Wie groß stellst du ihn dir vor? Welche Form hat er und aus welchem Material ist die Begrenzung des Raumes? Wie ist der Innenraum ausgestaltet? Wie ist das Licht? Wie ist die Luft und welche Temperatur fühlst du? Was würde noch dazu beitragen, dass du dich in diesem Raum vollkommen konzentrieren kannst? Wenn du ein inneres Bild hast, dann geht es jetzt noch einen Schritt weiter: Mal angenommen, dieser …

Indian Coffee House

Davon berichteten gestern The Indian Express, Times of India, The Hindustan Times, NDTV, also eigentlich alle: Diljit Dosanijh besucht das „Indian Coffee House“ in Kolkata. Dosanijh ist Sänger, Schauspieler und Producer, hier ein Superstar. Innerhalb von Minuten war seine Tour durch Indien ausverkauft. Danach geht es weiter nach Europa. London, Paris, die großen Arenen. Der Star der Gegenwart besucht das altehrwürdige „Indian Coffee House“ in Kolkata. Das hat in Indien einen Symbolcharakter, auch einen politischen. The Indian Express erläutert in einer Kolumne „how the Indian Coffee House brewed the politics of revolution“. In den Indian Coffee Houses fanden immer wieder Andersdenkende Zuflucht im Schatten autoritärer Herrschaften. Im 18. Jahrhundert öffneten im heutigen Chennai (Madras) und Kolkata (Kalkutta) die ersten Kaffeehäuser. Der Zutritt war Indern, Inderinnen sowieso, untersagt. Ende des 19. Jahrhunderts entstand dann die Idee einer „INDIAN-Coffee-House“- Kette, die erste Filiale eröffnete 1936 im heutigen Mumbai (Bombay) und kurz vor der Unabhängigkeit gab es in Britisch-Indien 50 Filialen. Mitte der 1950er Jahre sollten die Kaffeehäuser dann geschlossen werden, weil die politischen Rahmenbedingungen den Betrieb erschwerten. …

Kolams

Sie gehören zu Südindien, diese wunderschönen Kreis-symmetrischen Formen. Wir sehen sie vor vielen Hauseingängen auf dem Boden. Meist werden sie von Frauen morgens auf den frisch gereinigten Boden mit weißem Reismehl ausgestreut. Freihand natürlich. Die Zeichnung beginnt entweder im Zentrum wie bei obigem Kolam oder es werden Punkte gesetzt, die von einer oder mehreren regelmäßig plaufenden Linie umhüllt werden. Ich habe versucht, das folgende Muster einmal nachzuzeichnen, gar nicht so einfach! Die Frauen hier haben in der Regel ein großes Repertoire an unterschiedlichen Kolams, mit eingefärbtem Reismehl können auch farbige Muster gestaltet werden. Ein Kolam kann mehrere Funktionen haben. Es dient als Glücksbringer und Segen und zugleich als Abwehr gegen böse Geister. Die Punkte werden als Symbole für die Aufgaben des Lebens gedeutet, während die kunstvollen Linien die Lebensreise darstellen. Eine uralte, rituelle Handlung, in der eine kontemplative konzentrierte Kraft liegt und eine Schönheit zu unseren Füßen.

Glück: Masala Puri und Alu Puri

Gestern Abend sind wir in Kochi in den „Chennai-Express“ gestiegen, der uns durch die Nacht und durch Südindien gebracht hat, 700 Kilometer in zwölf Stunden, von Küste zu Küste. Eine großartige Reise im Schlafwagen. Von Chennai ging es dann in einem Elektro-Bus (!) weiter nach Pondicherry, unsere Station für die nächsten Tage. „Pondi“ war bis 1954 Hauptstadt von Französisch-Indien und gilt als kulinarische Hochburg. Was man halt so liest. Hier angekommen, haben wir das Gepäck in unserer Wohnung abgestellt und sind gleich wieder los, ein Moped und zwei eiskalte „Kingfisher“ besorgen. Unser erstes Bier seit Tagen, als Sundowner auf dem Balkon. Angekommen. Kurz duschen und dann geht es raus in die Gassen von „Pondi“. Gleich um die Ecke finden wir das Tulasi Bhavan. Ein Blick zwischen Bi und mir. Es zieht uns in diesen Laden. Es ist ein sekundenlanges Zusammenspiel der Sinne, das uns zu dieser Entscheidung bringt. Immer. Der Duft, die Menschen in der offenen Küche; die Gäste (keine Touristen); das fehlende Chichi, die Einfachheit; die Freude und Neugier der Crew, wenn sie uns …

Serie: Sowiesiesind

Neue Kontexte eröffnen die Gelegenheit, sich selbst neu zu erfinden oder immerhin andere Seiten an sich zu entdecken. Genauso gilt: egal, wie weit oder wohin die Reise geht, die „Sowiesiesind“ bleiben offensichtlich immer mit an Bord. Lediglich die Einfluss-Stärke scheint je nach Situation oder Lebensalter etwas zu variieren.

Der zweite Blick auf Kerala – Landkrank

Kerala ist ein Paradies oder war ein Paradies. Jetzt kommt sie wieder, die Beschreibung der ökologischen Krise, die Mahnung, die Apokalyptik und die Schulzuweisungen. Wie so oft, dass ich es eigentlich nicht mehr hören, lesen und hier schreiben will. Wir wissen doch darum, oder? Außerdem bin ich verstrickt mit der Krise hier, es gibt kein Außerhalb der Probleme. Keine unbeteiligte Beobachtung, die in diesem Blog auftauchen kann, denn die Spuren meines Tuns und Seins sind offensichtlich, hier in Kerala und auf unserer gesamten Reise. Überall sehen wir die Folgen unseres Tuns, als Menschen aus dem reichen Westen und als Touristen hier vor Ort. Einmal Indien hin und zurück – und meine persönliche Klimabilanz ist durch den Flug für Jahre versaut. Egal, ob ich mich vegan ernähre und Second-Hand-Klamotten kaufe. Und dann landen wir in Kolkata, die Luftverschmutzung dort erschwert uns das Atmen, die Sonne ist vor Dreck nicht sichtbar und der Zyklon „Dana“ fegt über Westbengalen hinweg: Starkregen, Evakuierungen, Schulschließungen. Das waren unsere ersten Tage in Indien. Die verstörenden Folgen auch meines Tuns also. Es …

Im Spiegel…

Sehen und gesehen werden geschieht bei dieser Reise auf ganz unterschiedliche Weise. Da sind zunächst und andauernd die Blicke der anderen in diesem fremden Land; eine solche Wucht von betrachtenden Augen, dass ich anfangs manchmal unsichtbar sein wollte, weil ich nicht wusste, wie ihnen begegnen. Jetzt bin ich vertrauter und wechsle Blicke mit allen, die mir entgegenkommen. Kinder und alte Menschen schauen am unmittelbarsten, meist fließt ein Strahlen über das ganze Gesicht, ein Lächeln, das wir uns gegenseitig spiegeln. Dann werde ich immer wieder von Indern und Inderinnen gefragt, ob sie ein Foto mit mir machen dürfen. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum das so ist. Eigentlich werde ich nicht gerne fotografiert, mag aber keine Bitte abschlagen und stelle mich also zur Verfügung für diese Bilder. Keine Ahnung, ob sie dann in den sozialen Medien landen oder wozu sie den Inderinnen sonst dienen könnten. Manchmal macht Tho dann Fotos von den Fotos, die von uns gemacht werden. Die dritte Ebene betrifft meinen Blick auf mich selbst, in der Welt der Fotografie entsprechen dem die …

Architektur 3: Wohnen in Kerala

Die Architektur ist hier ganz anders als in Rajasthan. Typisch für Kerala sind die Häuser mit Satteldach. Die Bauweise mit großen Veranden und den schrägen Dächern ist speziell darauf ausgelegt, dem starken Monsunregen standzuhalten, der für diese Region in Südindien charakteristisch sind. Mal zu besseren Vorstellung: Während es in Bremen pro Jahr etwa 1000 mm Niederschlag gibt, sind es in Kerala im Durchschnitt 3000 mm von Ende Mai bis in den November. Meist ist das Dach lediglich auf Säulen gesetzt und gänzlich ohne Seitenwände. Wäsche wird dort getrocknet oder man trifft sich abends, wenn es lauschiger wird im Hängesitz und schläft vielleicht hier, um nur keinen frischen Luftzug zu verpassen. Unsere Wohnung in Kochi befindet sich tatsächlich auch in einem solchen Haus und wir nutzen die Dachterrasse zum Wäschetrocknen und zum Yoga machen. Mittlerweile finden sich bei neueren Bauten auf den Schrägdächern gelegentlich auch Sonnenkollektoren Insgesamt wird in Kochi viel gebaut. Von der Architekten-Villa bis zu Hochhäusern ist alles dabei. Von der Formensprache erinnern die Gebäude teilweise an Le Corbusier, der auch in Indien stilbildenden …

„Gods own Land“ – Kerala oder wie ein Beitrag doch zustande kommt

Wir sitzen bei Ahaliyas Bakery für einen Abschieds-Chai. „Worüber schreibst du denn gerade?“ fragt der Mann. Und ich gestehe ihm, dass mir für meinen Text noch der Fokus fehlt…“Ich würde so gerne über diesen Moment in der Kirche in Alappuzha schreiben, als mir überraschend die Tränen kamen… wie ich da stand und nicht so recht wusste, warum… Vielleicht, weil ich plötzlich meine Herkunft gespürt habe, das Vertraut-sein mit allen Bildern, die in dieser Kirche, in den Fenstermosaiken waren. Ich würde gerne schreiben, dass mich die biblischen Geschichten schon ewig nicht mehr so berührt haben, so einfach und direkt, wie sie hier erzählt werden, und dann noch das Abendmahl über dem Altar… wie ein heimatlicher Moment.“ Der Mann trinkt Chai. Wenig Miene. Ich versuche weiter, ihn zu überzeugen. „Ich möchte auch darüber schreiben, dass wir wegen dir hier sind und Kerala wirklich ein besonderer Bundesstaat ist. Nicht nur, weil er einer der am dichtesten besiedelten ist, wegen der höchsten Alphabetisierungsrate in Indien oder wegen der vielen guten Schulen oder der wirtschaftlichen Entwicklung oder, oder… sondern auch, …