Autor: Thorsten

Vande Bharat Express

Morgens um fünf standen wir an der Straße, um den ersten Bus zu erwischen. Dann kommt aus dem Dunkeln ein Auto. Ein Mann steigt aus: „Howrah Railwaystation? 200 Rupien!“ Wir steigen zu und rollen dann zu fünft schweigend in dem kleinen Wagen quer durch die noch dunkle Stadt. Unser Abschied von Kolkata. Welchen Zug wir denn hätten, fragt mich der Fahrer. Ich erzähle etwas holprig von Gaya, 6:50 Uhr Abfahrt und so. Keine Reaktion. Der Fahrer schmeißt seine Handy an und sucht akribisch. Wir vier anderen achten besorgt auf die Straße. Dann zeigt er mir eine Übersicht der abfahrenden Fernzüge nach hinten in den Fond, dabei einem Tuk-Tuk etwas spät ausweichend. All die Züge haben einen Namen. Und ich sehe unseren Zug. Ich so: „Vande Bharat Express“. Und er so: „0h, Vande Bharat! Ok. It is the Old Howrah“. Jetzt schien alles geklärt. Dass Züge einen Namen haben und diese auch noch präsent sind, finde ich ziemlich cool, klingt ja auch fast wie „Orient-Express“ unser „Vande Bharat Express“. Zwei Tage habe ich gebraucht, um unsere …

Um die Ecke: Taj Biryani

Unser Appartement in Kolkata liegt im 5. Stock. Der kleine Fahrstuhl hat zwei Gittertüren, die zur Seite geschoben werden müssen. Dann ruckeln wir mit ihm nach unten, direkt in die dunkle Einfahrt des Hauses. Tritt man aus dem Haus ins Tageslicht, auf die Straße, macht es Bähm! Die etwa sechsspurige Lenin Saranin Road trifft auf zwei ebenso breite Straßen. Dieses Inferno 50 Meter vor unser Haustür ist Moulali Crossing und direkt an ihr befindet sich das Restaurant Taj Biryani, unser Imbiss um die Ecke. Offen zu allen Straßenseiten, hässlich, dreckig und es gibt nur wenig von dem, was auf der Karte steht. Unsere ersten Essen dort waren die üblichen Biryani: Vor dem Garen angebratener Reis mit Kartoffeln und Fleisch vom Huhn oder Lamm. Eigentlich muss man ein Biryani mit den Händen kräftig mischen, fast kneten. Dann entsteht mehr Sauce. Wir hantieren aber immer noch umständlich mit Plastiklöffeln. Bi mag die Rolls dort, hat etwas vom Sielwalleck in Bremen. Erste Gesprächsversuche, eigentlich mehr Zeichensprache. Der Chef mag uns und auch unser Trinkgeld, wir ihn und sein …

Chai

Masala Chai „bezeichnet in ganz Südasien ein Getränk aus Schwarztee, Milch, Zucker und einer Gewürzmischung.“ Soweit die Fakten. Chai ist aber deutlich mehr. In Kolkata geht derzeit so gegen sechs die Sonne auf. Die Stadt erwacht nur langsam und frühestens gegen neun ist sie auf der üblichen Betriebstemperatur. Diese drei Stunden am Morgen sind magisch: die Menschen kommen aus ihren Häusern, aus ihren Verschlägen, aus ihren Verkaufsständen, in denen sie die Nacht verbracht haben. Es ist noch relativ kühl, etwas unter 30 Grad. An den Wasserstationen sammeln sich die Männer zu einer ausgiebigen Waschung. Man kennt sich, grüßt sich. Plausch hier, Plausch da. Es scheint, das tägliche Getöse des Verkehrs verdeckt eine fast dörfliche Kultur, mitten im Zentrum der Stadt. Wobei Kolkata eigentlich ein einziges Zentrum ist. Einige Stände bereiten ihren Chai über Kohleöfen zu. Und so vermischt sich auf der Straße am frühen Morgen der leichte Kohlegeruch mit den Aromen von Zimt, Ingwer, Sternanis, Kardamon, schwarzer Pfeffer, Nelke und Macis. Nun ist Chai natürlich nicht gleich Chai. 1. Wir trinken ihn nur aus den …

Einsteigen – Aussteigen

Kolkata hat eine Metro, die in diesem Jahr ihr vierzigjähriges Jubiläum feiert. Die ganze Stadt wartet auf die Eröffnung einer weiteren Linie, die auch endlich den riesigen Bahnhof Howrah auf der anderen Flussseite anbindet. Bis zur Eröffnung der neuen Metrolinie staut sich der Verkehr jeden Tag auf der Howrah Bridge, die über den Fluss Hugli führt. Alternativ kann man sich von unzähligen Fähren über den großen Fluss setzen lassen. Metro und Fähre zeigen das gleiche Phänomen. Kaum steht die Metro still und hat die Fähre angelegt, strömen die Menschen hinein. Das offensichtliche Problem: die Menschen kommen nicht raus. Es gilt keineswegs die Regel, erst aus- und dann einsteigen. Das stresst mein deutsches Ordnungsgefühl, ist aber auch lustig, weil es jedes Mal zu regelrechten Verstopfungen kommt. Anders nun in den unzähligen uralten, lauten und qualmenden Bussen. In jedem Bus gibt es einen Türpförtner und Zeremonienmeister in einer Person. Ein Pförtner allerdings ohne Tür, weil diese in Kalkutta entfallen. Der Mann steht während der Fahrt mit wehenden Haaren im offenen Eingang des Busses. Er sorgt dafür, dass …

Zeitungslektüre 1: Hansi Flick

Wir lesen hier die indische Ausgabe des „The Telegraph“. Die Papierausgabe gibt es morgens an der Straßenecke. Das ist in der Stadt der Handys so richtig Old School, aber auch lässig, so mit der Zeitung unterm Arm und es trainiert mein schlechtes Englisch. Mein erster Blick geht dann, wie zu Hause auch, in den Sport. Die Wochenendausgabe des Telegraph hat heute drei Sportseiten. Wir sind in Indien, in Westbengalen, in Kolkata und wer guckt mich neben der Headline an? Genau. Hansi. „Ancelotti und Flick ready for clasico battle.“ Dann folgt zunächst auf der ersten Seite ausführlich alles zu Cricket. Was mich nicht wundert, weil die Jungen hier, wenn es der Verkehr zulässt, ihre langen Schläger auf den Straßen schwingen, am Sonntag auf den wenigen breiten „Boulevards“ und in den schmalen Gassen von Old-Kalkutta. Das hiesige Stadion Eden Gardens fasst 68.000 Zuschauer! Ansonsten dreht sich aber alles um den Fußball: Hansi, Mourinho, Fenerbahce, Pep, Messi, de Bruyne, Yamal…. Beim Chai kann man mit den Einheimischen so richtig fachsimpeln über einen Sport, der hier nur wenig gespielt …

Das Hupen

Kolkata ist laut oder besser: sehr laut. Kolkata ist voller Menschen ….. und Autos und Busse und Tuk Tuks und Rikschas und Fahrräder und Motorräder und… Kolkata ist atemlos. Jeder will wohin. Jetzt. Und so klingt das Hupen: ich will da jetzt durch. Dann gibt es ein zweites Hupen: ein stolzes Hier-bin-ich. Die Fahrradfahrer nutzen dazu die Klingel, die Motorradfahrer und die Lenker der Tuk Tuks dieses quäkende Tröten. Dieses Hupen ist weniger aggressiv. Es soll sagen: also gleich bin ich bei dir, gehe mal besser zur Seite, ich fahre dir aber nicht über die Füße. Das dritte Hupen ist das arrogante, kurze. In der Regel ein klimatisierter SUV mit Lederausstattung und Fahrer vorne und keine verdunkelten Scheiben hinten, weil man gesehen werden will. Nicht ganz so selten. Dieses Hupen ist kompromisslos und machtvoll, distanziert. Da muss man zur Seite, wenn auch sehr widerwillig. Und dann das Hupen der Könige, der Busfahrer. Ein stotterndes Hupen, so fünfmal kurz hintereinander. Mehr ein Signal, ein „Gleich halte ich-steigt aus-steigt ein-es geht sofort weiter-macht mir Platz-Signal“. Dann gibt …

Royal Enfield 350 Classic

Sie wird nicht gefahren, sondern ausgefahren, zelebriert. Sie steht an vielen Ecken. Sie wird geputzt und gewienert. Der Fahrer (ganz, ganz selten eine Fahrerin) ist voll sympathisch und stolz. Nicht selten sitzt eine vierköpfige Familie auf ihr. Und dann gibt es noch Millionen anderer Zweiräder. Aber sie hört man immer raus. Dieser tiefe Sound des Motors, dieses tuckernde Dahingleiten. Außerdem will ich mir einbilden, dass der Fahrer einer Royal Enfield nicht wie alle anderen Verkehrsteilnehmer/-innen aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen STÄNDIG, ABER AUCH STÄNDIG, ALSO WIRKLICH STÄNDIG HUPT. Die spinnen die Kolkaten! Zu meiner Philosophie des Hupens in Kolkata später mehr.

AQI oder Wir kennen die Sonne nicht

In wenigen Tagen beginnt Diwali. Zu diesem mehrtägigen Fest gehört auch das „Böllern“, erste Feuerwerke explodieren bereits jetzt am Himmel. Schon der alltägliche Smog in Kolkata riecht wie bei uns der erste Januar in der Stadt. Und pünktlich zu Diwali ist die Luftverschmutzung wieder in vieler indischer Munde. In Delhi ist das „Böllern“ verboten. Wohl auch in Kolkata, wobei es illegale Quellen zu geben scheint. Damit sind wir bei AQI, dem Air Quality Index. Diese App gibt den aktuellen Grad der Luftverschmutzung an und ist in den Medien sehr präsent. In Kolkata liegt der Wert durch den Dauerregen gerade bei sehr guten 40. Zum Vergleich in Delhi bei 169, in Hamburg bei 19. Wie dramatisch sich die Luftverschmutzung in Indien entwickelt, zeigt der Film „Invisible Demons“ von Rahul Jain aus dem Jahr 2021 (auf MUBI). Darin erzählt ein junger Mann aus Delhi: „Wir kennen die Sonne nicht. Wir wissen nicht wo sie auf- und wo sie untergeht.“ Nachtrag: Am 27. Oktober liegt der Wert in Kolkata bei deutlich spürbaren 78 und in Delhi bei heftigen …

Srijanee Banerjee und Applaus

Mit der Metro in den Süden von Kalkutta. Aus dem überklimatisierten Zug hoch ins feucht-schwüle Getöse und Gedröhne. Eine sechsspurige Straße im dunklen Abendverkehr will erstmal überquert sein. Dazu an anderer Stelle mehr. Wir suchen die ITC Sangeet Research Academy. Europäer fallen in Kalkutta sehr auf und suchende noch viel mehr. „Are you looking for the ITC?“. Mitten im städtischen Chaos wird uns Hilfe angeboten. Der Mann führt uns zu einer kolonialen Villa, ein Park, der obligatorische Wachmann, eine Oase. Das ITC fördert seit den 70er Jahren die traditionelle hinduistische Musik. Der obligatorische Chai zur Begrüßung. Rund 40 eher jüngere Menschen finden sich ein zu zwei Konzerten. Die Begrüßung findet auf Englisch statt, weil „zwei ausländische Gäste“ im Raum sind. Zum ersten Konzert nur kurz: Alle sitzen, das Licht wird runter gedimmt, die letzten Gespräche klingen aus. Das Konzert könnte beginnen. Aus einem Seiteneingang tritt eine ältere Frau im Sari ein. Ein Raunen geht durch den Saal. Ein Raunen, das man nicht hört, aber sieht. Guru, die Meisterin oder die Lehrende. Verneigungen, Niederknien, ihre Füße …

Dunkel

An jeder größeren Straße reihen sich in unserem Viertel die Verkaufsstände aneinander. An der Häuserseite sind kleine Geschäfte, an der Strassenseite liegen die Waren oftmals auf dem Boden oder in Holzständen. Zwischen den Ständen links und rechts bleibt ein schmaler Gang. Und das auf beiden Straßenseiten. Kilometerlang mit nur kleinen Unterbrechungen. In regelmäßigen Abständen führen kleine Gassen in ein Labyrinth von weiteren Ständen, in die Hinterhöfe. Es hat eine Weile gebraucht, bis wir uns in diese getraut haben. Aber dann: Der Zugang ist noch hell von der Straße. Dann wird es dunkler, stickig, es riecht nach.., riecht nach…Blut. Ein kleiner Schlachthof im Hinterhof. Hühner in Käfigen, in einem furchtbaren Zustand. Es wird auf Bestellung geschlachtet. Keine Kühlung, kein Ventilator. Getrocknetes Blut. Im Dunkeln springen die Ratten. Junge Männer in kurzen Hosen und Latschen machen gerade eine Pause. Und ich habe den Eindruck, dass Menschen, die mit Fleisch hantieren, hier einen besonderen Stolz ausstrahlen. Als sei auch nur der Umgang mit Fleisch grundsätzlich ein Anteil am Wohlstand. Und: In den wenigen Restaurants sind Fleischgerichte in der …