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Schockverliebt

Im Zentrum von Hanoi verändert der Tourismus gerade das Gesicht der Stadt. Es wird zunehmend chick und hipp, glatt und teurer.

Die Tourist:innen navigieren sich mit ihren Handys durch die Stadt, von hot spot zu hot spot, dabei immer in der Gefahr gegen den nächsten Lichtmast zu laufen. Das obligatorische Ritz-Charlton öffnet demnächst und diese mit Werbung beklebten Touristenzüge tingeln auch schon durch die Straßen mit quäkenden, aufgezeichneten, englischen Erläuterungen zum „See des zurückgegebenden Schwertes“.

Und alle pilgern zu der berühmten, weil instagrammable, kurzen Bahnstrecke, wo die Züge durch die engen Gassen knapp an den Cafés vorbeifahren. Mittlerweile wegen Überfüllung allerdings problematisch.

Aber nicht nur der Tourismus schlägt zu. Das kommunistische Vietnam befindet sich seit längerem in einer enormen wirtschaftlichen Wachstumsphase ähnlich dem ehemaligen chinesischen Modell.

In Kürze: Wohlstand ohne Freiheit, so ist der Deal. In der Rangliste der Pressefreiheit liegt das Land auf den letzten Plätzen. Aber sie sind alle da: Gucci, Apple, KFC schon länger, Uniqlo, Shoppingmalls…

Auffallend und nicht überraschend die vielen deutschen Limousinen der Oberklasse, die von den chinesischen Konkurrenz bekommen. Überhaupt sehr viele und neue Autos.

Das Zentrum von Hanoi wird bald austauschbar sein, eine Selfiekulisse für den globalen Tourismus.

Und ein Ort für den gehobenen Mittelstand und die Reichen, für das internationale Business und dessen seelenlose Architektur.

Eine sechsspurige Straße markiert die Grenze dieser Welt. Sie ist nicht leicht zu überqueren. Kaum Ampeln oder Zebrastreifen, eine Mauer mit nur wenigen Durchlässen umrandet sie. Man könnte den Eindruck bekommen, dass diese Grenze nicht überquert werden soll, als wenn sie da auch was schützt.

In diese „andere Straßenseite“ von Hanoi habe ich mich schockverliebt.

Der dänische Stadtplaner Jan Gehl hat sich mal tagelang auf eine italienische Piazza gesetzt, um menschenfreundliche Räume und Stadtviertel zu verstehen. Also um städtische Räume zu lesen, in denen Menschen sich aufhalten, wohlfühlen und verweilen, um mit diesem Wissen neue Räume etwa in Kopenhagen, Melbourne und New York zu planen oder bestehende zu verändern.

Noch kann man dies auch auf der „anderen Straßenseite“ in Hanoi beobachten und verstehen lernen. Noch.

Und das Rezept scheint so einfach:

Es gibt hier nur wenige Autos und damit kaum ruhenden Verkehr. Das Moped, zunehmend elektrisch, hat das Fahrrad abgelöst und ist hier das Statussymbol. Es wird abends mit in das Haus genommen.

Kaum ein Haus hat mehr als fünf Stockwerke.

In und vor den Erdgeschossen befinden sich Werkstätten, Geschäfte, Garküchen, Wohnungen, Cafés, Imbisse, Marktstände, Praxen, Betriebe und davon Mischformen, auch nur temporär und mobil, in den Abend- oder Morgenstunden.

Keine Supermärkte oder Discounter, aber dennoch alles nebenan. Auch den Fischgroßmarkt, wo in der Nacht kleine Haie, Unmengen von Krebsen, Muscheln und Tintenfische in Wasserbassins schwimmen, bevor Sie in die Stadt verteilt werden.

Wir wohnen in dem einzigen Airbnb weit und breit. Kaum Hotels. Eigentlich keine Touristen. Wir werden toleriert, aber nicht begehrt, ob unseres Geldes, wie drüben im Zentrum. Wir sind hier ein Fremdkörper, den man en passant im Alltag registriert, zurückhaltend, neugierig.

Und überall Gemeinschaftsräume:

In einer kleinen Mehrzweckhalle, die offen zur Straße ist, trainieren Kinder die vietnamesischen Kampfkünste. Wenig weiter ein Yogaraum.

Gestern hat Vietnam gegen Thailand in der Verlängerung 3:2 gewonnen. Überall saßen die Menschen sichtbar beim Fußball zusammen und haben das Prestigeduell aufgeregt verfolgt. Dreimal ausgelassener Jubel über dem Viertel.

Ein Haus weiter ein Karaoke unter Nachbarn. Frauen treffen sich zu später Stunde in einem Beautysalon, es ist laut, die Fenster sind beschlagen. Eine Bürger- oder Parteiversammlung in einem einsehbarem Sitzungsraum.

In den Garküchen kennt man sich, jung und alt. Eigentlich ein verlängerter Küchentisch. Ein tägliches Ritual.

Eine Hochzeit in dem Gebäude, das auch eine Schule ist. Wir schauen zu, auf unseren Plastikhockern mit dem Banh mi in der Hand.

Ob und wie der Überwachungsstaat hier anwesend ist, können wir nicht erkennen.

Wir, die auch hier eigentlich nicht hingehören. Wir, die gerade mit dafür sorgen, dass es hier bald so sein könnte wie drüben im Zentrum, indem wir hier sind, darüber schreiben. Oder?

1 Kommentare

  1. Marc sagt

    Ich bin auch schockverliebt. Faszinierend, wie sich die gesamte Ästhetik verändert und während ich bei Indien eher bei „interessant“ verharrt bin, denke ich bei Hanoi sofort „da will ich auch hin“. Es steht auf meiner Reiseliste also nicht zu Unrecht seit Jahren ganz oben, stelle ich sofort fest. Und freue mich sehr auf weitere Berichte!
    Liebe Grüße an euch Drei!

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