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„Gods own Land“ – Kerala oder wie ein Beitrag doch zustande kommt

Wir sitzen bei Ahaliyas Bakery für einen Abschieds-Chai. „Worüber schreibst du denn gerade?“ fragt der Mann. Und ich gestehe ihm, dass mir für meinen Text noch der Fokus fehlt…“Ich würde so gerne über diesen Moment in der Kirche in Alappuzha schreiben, als mir überraschend die Tränen kamen… wie ich da stand und nicht so recht wusste, warum… Vielleicht, weil ich plötzlich meine Herkunft gespürt habe, das Vertraut-sein mit allen Bildern, die in dieser Kirche, in den Fenstermosaiken waren. Ich würde gerne schreiben, dass mich die biblischen Geschichten schon ewig nicht mehr so berührt haben, so einfach und direkt, wie sie hier erzählt werden, und dann noch das Abendmahl über dem Altar… wie ein heimatlicher Moment.“ Der Mann trinkt Chai. Wenig Miene. Ich versuche weiter, ihn zu überzeugen. „Ich möchte auch darüber schreiben, dass wir wegen dir hier sind und Kerala wirklich ein besonderer Bundesstaat ist. Nicht nur, weil er einer der am dichtesten besiedelten ist, wegen der höchsten Alphabetisierungsrate in Indien oder wegen der vielen guten Schulen oder der wirtschaftlichen Entwicklung oder, oder… sondern auch, …

Malabarküste

Bei Sonnenaufgang sind wir die letzten Tage mit einem kleinen Floß die wenigen Meter von unserem Homestay zum Strand gepaddelt. Wir sind derzeit ganz im Süden der Malabarküste, am Arabischen Meer. Kaum Tourismus, kaum Restaurants, kilometerlanger Sandstrand und Fischerei. Das Wasser ist warm, zu warm für die Jahreszeit. Natürlich auch hier, viele Probleme infolge des Klimawandels. Dazu an anderer Stelle. Jetzt nicht. Einfach ausblenden, weil es so schön ist, auf dem ersten Blick. Also heute nur der erste Blick. Die Fischer hier fangen Königsfisch, Makrele, Sardinen, Butterfisch, Seherfisch, Roter Schnapper, Tilapia, Granat, ab und zu einen kleinen Hai, sehr, sehr selten verfängt sich auch ein Walhai, den sie wieder freilassen. Und jetzt, früh am Morgen, warten sie darauf, dass die Kollegen zurückgekommen. Die kleinen Flöße gleich hinter der Brandung fangen mit ihren Netzen vor allem die Sardinen, die größeren Boote am Horizont den Rest. Die größeren Boote werden gemeinsam aus der Brandung gezogen, in einem Rhythmus der Männerstimmen, die Hilfe ist Ehrensache, und sofort geht der Fang in die Versteigerung auf dem Fischmarkt am Strand. …

Holy, holy…

… so heißt das Fotoalbum, in dem ich seit Beginn unserer Reise Bilder von heiligen Orten und Momenten sammle, wobei Heiliges hier überall und andauernd stattfindet – nur ganz anders als ich es kenne. Selbst hier im Süden, am arabischen Meer, mitten in der Natur gibt es morgens um sechs Gesang in beachtlicher Lautstärke aus irgendeinem Tempel in der Nähe, der sich mit der Kakophonie der erwachenden Tierwelt zu einem Weckruf der ganz eigenen Art vermischt. Vermutlich ist die hinduistische Götterwelt die am stärksten bevölkerte der großen Weltreligionen. In den Veden ist von 3306 verschiedenen Göttern und Göttinnen die Rede. Okay, ich brauche ein wenig Orientierung und habe eine kleine Recherche gestartet. Falls du auch Lust auf göttliche Ordnung hast… Am Anfang von allem ist im Hinduismus Brahman, die Weltenseele, die als formloses unpersönliches Konzept gesehen wird, als Ursprung des Universums und des Seins. Das ist sehr abstrakt und so ist glücklicherweise die nächste Stufe konkreter und differenzierter: eine Trinität von obersten Göttern. Ja! Das klingt zunächst einmal vertraut für uns aus dem christlichen Kulturkreis, …

Thiruvananthapuram North

Schön an unserer Reise ist, dass wir viel Zeit und oft keinen getakteten Plan haben. Ich mag das sehr. Kurz nach 12 Uhr trudeln wir mit dem Tuk-Tuk am Bahnhof Thiruvananthapuram North ein, dem zweitgrößten Bahnhof der Hauptstadt von Kerala. Also ganz im Süden von Indien. Unser Zug fährt erst um 16:45 Uhr. Wir haben also sehr, sehr viel Zeit. Der Bahnhof ist fast leer, es ist recht schwül, die Tuk-Tuk-Fahrer machen ihre Mittagspause, die Züge stehen im Gleis, die Anzeigentafel ist ausgefallen und auch die Durchsage scheint nicht zu funktionieren. Nichts geht. Es hat was von „12 Uhr Mittags“. Es ist, kaum zu glauben in Indien, STILL! Wir hören ganz leise die Brandung des Meeres. Vor dem Bahnhof gibt es Soda Lemon: eiskaltes Soda (nur im fortschrittlichen, kommunistisch regierten Kerala aus der Pfandflasche) mit einem Schuss Limette. Sehr lecker. Bi schreibt an ihrer Reisenotiz über den Reis. Ich schlendere durch den Bahnhof. In der Regel konkurrieren in Indien Millionen von jungen Bewerber:innen um schlecht bezahlte Stellen, die die Regierung anbietet, etwa bei der Eisenbahn. …

चावल

… es ist ungefähr 6 mm lang, hat etwa 1,5mm Durchmesser und es wiegt 20 – 40 mg. Es ist unbegrenzt haltbar. Für über die Hälfte der Weltbevölkerung ist es lebensnotwendig. Alle Jahre wieder. In Indien wird es zweimal im Jahr in die Erde gelegt – und das seit 6000 Jahren. Feuchte Erde oder geflutete Erde. Es wächst, von 50 cm bis zu 1 m Höhe erreicht es und nach einem halben Jahr kann es mit der Sichel geerntet werden. Dann hat es sich vermehrt und aus dem einen sind viele geworden, bis zu 3000 an einer Rispe. Dann muss es getrocknet und gedroschen und meist auch geschält werden. Bis es schließlich in der Straße ankommt, in der unser Hotel sich befindet, in Trivandrum, Bundesstaat Kerala im Süden Indiens. Es wird auch das „Korn des Lebens“ genannt. Reis. In den Hallen sitzen die Herren an ihren Tischen und handeln mit Reis. An die 50 verschiedene Sorten hat unser Händler gegenüber. In den kleinen Schälchen aufgereiht, haben sie eine beeindruckende Vielfalt in Größe und Farbigkeit, dazu …

Drumherum

Heute ist unser letzter Tag in Udaipur. Wir waren 10 Tage hier, es wird Zeit vom Drumherum zu erzählen. Dem Drumherum vom Lalghat Haveli, unserem Hotel. Gleich um die Ecke ist das Gangaur Ghat. Dort am Seeufer lassen sich angehende Hochzeitspaare in traditionell festlicher Kleidung von professionellen oder zumindest sehr engagierten Fotografen ablichten. Hochbetrieb, bis zu acht Paare gleichzeitig. Die immer gleichen gestellten Posen, bei aufgehender oder untergehender Sonne, durch einen Taubenschwarm gehend. Die Tauben werden ständig gefüttert, damit sie nicht abhauen, was sie recht fett macht. Wir sitzen gerne auf einer Bank und beobachten das Treiben. Welche Paare passen zusammen? Wo bestimmt die Frau, wo der Mann? Ist die Kleidung gut abgestimmt? Was soll denn die Pose? So ein bisschen wie Statler und Waldorf. Und abends ist an gleicher Stelle dann Party. Nebenan hat ein Paar aus Gujarat vor einem Jahr ein Restaurant eröffnet. Das „Nagar Restaurant“ hat sieben Sitzplätze, wenn wir uns dünn machen. Es gibt Parathas zum Frühstück, Mittag- und Abendessen, in drei Variationen, nicht mehr, aber die haben es in sich. …

Zwei Straßen weiter…

Tatsächlich ist Udaipur, ein Ort, der von Reisenden aus allen möglichen Ländern besucht wird. Entsprechend gibt es entlang der Straße um den Pichola-See mit den Hauptattraktionen Palast und Tempel die entsprechenden Geschäfte mit Dingen, von denen man glaubt, Tourist:innen würden sie besonders gerne kaufen. Hier sind das indisch anmutende Röcke, Blusen und Hosen, Miniatur-Malerei, wofür die Stadt berühmt ist, und Läden, die maßgeschneiderte Kleidung innerhalb von 24 Stunden herstellen. Dazu gibt es jede Menge Läden mit der Spezialkombination: Mopeds verleihen, Geld wechseln oder Zug- und Bustickets verkaufen. Von der Hauptstraße abbiegen und eintauchen in ein unüberschaubares Gassengewirr, noch einmal rechts und einmal links und auf einmal sind wir mitten im Bada Basar. Herrlich! Die anderen Tourist:innen haben wir hinter uns gelassen. So viele kleine Geschäfte, und vollkommen verschiedene. Hier gibt es wirklich jede Menge Fachgeschäfte. Sei es der Nudel-Laden, das Fachgeschäft für Schlösser oder Reis-Kochtöpfe, die Chips-Manufaktur oder der Chili-Laden… Es ist für mich ein sinnlicher Genuss durch die kleinen Straßen zu wandeln. Darüber hinaus gibt es natürlich auch noch die vollgepackten Wagen mit Armreifen, …

Schule in Indien

Wie ist Schule in Indien? Diese Frage reist schon die ganze Zeit mit. Auffällig im Straßenbild ist zunächst einmal, dass indische Schüler:innen eine Schuluniform tragen, egal, ob sie zu öffentlichen oder privaten Schulen gehen. Was noch? Die Schulbusse sind in Indien gelb. Chorischen Sprechen schein hier zum Schulalltag zu gehören, so tönt es aus den Schulhäusern. Mein erster Schulbesuch kam unverhofft. Gestern. Bei einem Ausflug mit dem Motorrad. Am Ende eines nicht mehr gepflasterten Weges durch ein Dorf war nur noch ein großes Tor. Auf dem Schild stand, dass es sich um eine Schule handelt. Während ich davor stehe, kommt vom Hof eine Frau auf mich zu, offen lächelnd: „Good morning, welcome, come in, come in.“ Da sie mehr Worte auf Englisch nicht wusste, rief sie eine Kollegin herbei, die sich als Leena, Englischlehrerin in der Schule vorstellte. Ich erzählte ihr, dass ich Kunstlehrerin in Deutschland sei und großes Interesse hätte, eine indische Schule kennen zu lernen. „Come“, sagte sie und führte uns durch alle 8 Klassen dieser kleinen Dorfschule. Üblich ist, dass die Kinder …

Fließend

Ok, Udaipur ist nicht Kolkata oder Jaipur. Alles eine Nummer kleiner, aber das Prinzip habe ich hier in Udaipur verstanden oder besser erfühlt. Man muss sich reinstürzen in den Verkehr und sofort fließt man mit. Es gibt keine Regeln oder besser: wir halten uns an keine, außer der, dass man links fährt. Meistens. Selbst auf der Autobahn machen wir da schon mal eine Ausnahme. Wir haben Spaß miteinander, selbst oder gerade wenn geschimpft wird, weil es nicht weitergeht. Und natürlich wird dann gehupt. Ein kurzer gemeinsamer Aufreger, große Gesten. Das mit den Gesten traue ich mich noch nicht. Am Ende löst sich alles in Wohlgefallen und ein Lächeln auf. Wir weichen mit Freude aus, der pissenden Kuh oder ganzen Kuhherden, den abgrundtiefen Schlaglöchern und uns. Wichtig ist dabei eine gewisse Geschmeidigkeit, der Fahrfluss darf nicht unterbrochen werden. Der periphere Blick ist dabei gefordert. In Udaipur gibt es wohl nur eine Ampel, an einem großen Kreisel. Dort stehen wir zu acht nebeneinander auf zwei Spuren, vor allem Mopeds und Tuk-Tuks, ein paar Autos. Kurz bevor es …

Auszeit und Zukünfte

Die letzten drei Tage das Bett hüten. Schniefend und hustend. In Udaipur. In unserem hellen, weißen Zimmer mit Blick auf den See und die weißen Paläste. Das mit der Zeit wandernde Licht und die Schatten auf der Wand, klingelnde Glocken vom Tempel gegenüber, die leise tuckernden Touristenboote auf dem See und Vogelschreie. Abends werden sie abgelöst von Puja-Chören und den sehnsüchtig klingenden Männergesängen, die sich mit Gitarre begleiten…von mehreren Dächern gleichzeitig, mal wieder ein Sound-Tamasha. In Udaipur ist jedes Haus um den See ein Hotel mit Restaurant und Rooftop. Tagsüber schlafen, nachdenken oder lesen. Zum Thema „Zukunft“. Weil die Nachrichten aus aller Welt nicht eben hoffnungsfroh stimmen. Weil immer wieder die Frage auftaucht, ob es einen Unterschied macht, wenn wir die Zukunft nicht nur als düstere Gegend, als Katastrophenszenario beschreiben, sondern als einen Raum wahrnehmen, in dem sich eine Vielfalt an Möglichkeiten ereignen können. Warum sind dystopische Geschichten so viel häufiger als utopische? Und schaffen unsere Bilder von der Zukunft die entsprechenden Wirklichkeiten? Zu den Fragen finden sich Bücher (was für ein Glück, dass in …