Alle Artikel in: Reisenotizen

Einsteigen – Aussteigen

Kolkata hat eine Metro, die in diesem Jahr ihr vierzigjähriges Jubiläum feiert. Die ganze Stadt wartet auf die Eröffnung einer weiteren Linie, die auch endlich den riesigen Bahnhof Howrah auf der anderen Flussseite anbindet. Bis zur Eröffnung der neuen Metrolinie staut sich der Verkehr jeden Tag auf der Howrah Bridge, die über den Fluss Hugli führt. Alternativ kann man sich von unzähligen Fähren über den großen Fluss setzen lassen. Metro und Fähre zeigen das gleiche Phänomen. Kaum steht die Metro still und hat die Fähre angelegt, strömen die Menschen hinein. Das offensichtliche Problem: die Menschen kommen nicht raus. Es gilt keineswegs die Regel, erst aus- und dann einsteigen. Das stresst mein deutsches Ordnungsgefühl, ist aber auch lustig, weil es jedes Mal zu regelrechten Verstopfungen kommt. Anders nun in den unzähligen uralten, lauten und qualmenden Bussen. In jedem Bus gibt es einen Türpförtner und Zeremonienmeister in einer Person. Ein Pförtner allerdings ohne Tür, weil diese in Kalkutta entfallen. Der Mann steht während der Fahrt mit wehenden Haaren im offenen Eingang des Busses. Er sorgt dafür, dass …

Diwali

Seit Tagen wird das Lichterfest vorbereitet. Überall! Die Bambusgerüste für die „Pandals“ bekommen Verkleidungen aus Stoff oder dünnen Brettern. Verzierungen, Blumen und vor allen Dingen die Beleuchtung kommen dazu. Und tatsächlich hat jede Straße, jedes Viertel seine eigenen Pandals gebaut: Zu Diwali kommen die Familien zusammen und schmücken ihre Häuser mit vielen Lichtern, die vor die Tür oder ins Fenster gestellt werden. Dabei gibt es heute alle Varianten: von der traditionellen Tonschale als Öllämpchen bis hin zur schnell getakteten grellbunten Lichterkette ist alles zu finden. Gefeiert wird der Sieg des Guten über das Böse in der Welt – auch der Sieg des Lichts über die Dunkelheit… Ein Fest in ganz Indien, aber je nach Region werden dabei unterschiedliche Göttinnen und Götter aus dem reichen hinduistischen Himmel geehrt. In Kolkata ist es die schwarze Kali. Sie gilt als die Göttin des Todes, der Zerstörung und der Erneuerung. Der Mythos erzählt, dass sie als Verkörperung des Zorns aus der Stirn der Göttin Durga entsprungen sei und dann das Weltall mit ihrem schrecklichen Brüllen erfüllt hat. In jedem …

green salad…

Über das Zweitwichtigste haben wir bis jetzt noch nicht geschrieben, aber jetzt! Natürlich gab es „Spannungen“ zwischen uns, wer darüber schreiben darf… die Lösung war dann nach ein paar mißtönigen Bemerkungen einfach: wir schreiben beide. Wichtige Frage: Wo gibt es gutes Essen? Wo sind die Restaurants? Anfangs waren sie gar nicht so leicht zu entdecken, unscheinbare Türen oder Treppen in den ersten Stock… dafür aber ganz unmittelbar sichtbar: die unzähligen Garküchen am Straßenrand. Und dann bestellen: Die wunderschöne Alphasyllabar-Schrift können wir nicht lesen und in den Garküchen gibt es meist überhaupt keine Karte. Das indische Englisch klingt für uns oft wie eine unverständliche Fremdsprache und anfangs wussten wir auch die Namen der Gerichte nicht. Also bleibt die Verständigung durch einen Fingerzeig auf den Teller des Gastes am Nebentisch – verbunden mit einem Nicken: das möchte ich auch – eine gute Variante. Auf diese Weise kamen wir zu unserem ersten indischen Frühstück: Parathas = gebackene Brotfladen mit ein bisschen Kartoffelcurry. Herrlich! In jedem noch so kleinen Restaurant gibt es in einer Ecke ein Waschbecken, bevor man …

Fremd sein 1: grundsätzlich

Ist ja klar, wie soll es anders sein, wenn wir in einem fernen Land ankommen… alles neu, so viele Eindrücke, Fragen und Anforderungen. Jep, fühlt sich nicht immer gut an, das Fremdsein. Nicht zu wissen, wie so etwas selbstverständliches wie Busfahren geht. Oder wo Toiletten zu finden sind. Aber auch: immer auffallen in den Straßen als Fremde, nicht sicher fühlen, wie Blickkontakt sein kann oder Begegnung. Oder basal: was es hier zum Frühstücken gibt und so weiter… Wie die eigene Resonanz dazu ist? Ich bin überrascht, wie sehr ich hier unentwegt nach Orientierung suche, um nur nicht ausgeliefert zu sein oder verloren zu gehen in dieser fülligen Fremde. Und deswegen keine Gelegenheit auslasse, mir vertraute Momente zu schaffen. Wie das geht? Indem Tho und ich ein zweites Mal durch die gleiche Straße gehen, indem wir denselben Obsthändler aufsuchen, der uns beim letzten Mal schon so prachtvolle Zimtsäpfel verkauft hat und sich an uns erinnert. Genauso wie der Wirt des Straßenimbiss, bei dem wir abends essen. Was auch hilft: mich auf Google Maps immer wieder versichern, …

werden & vergehen 1

Es geschieht an den großen Straßen, in kleinen Seitengassen oder an Straßenecken. Nicht immer ist klar, ob es sich um den Aufbau oder den Abbau handelt, meist sind mehrere Männer beteiligt. Das Material ist einfach: Bambus und bunte Bänder. Beides wird auf ebenso schlichte wie geniale Weise miteinander verbunden, so dass eine unglaubliche Vielzahl an Bühnen, Baldachinen oder Gebäuden entstehen kann. Als wir am ersten Tag mit dem Taxi vom Flughafen nach Kolkata fuhren, haben wir uns gewundert, warum entlang der Straßen diese großen Gerüste aufgebaut waren, warum es große, knallbunt leuchtende Tempel gab, die keinerlei Anzeichen von Verfall zeigten, während nebendran alle Gebäude gerade mal mit morbidem Charme glänzen konnten. „Durga Puja“ war dann des Rätsels Lösung. Das jedes Jahr Anfang Oktober stattfindende Fest zur Ehren der Göttin Durga ist in Kolkata sogar das wichtigste Fest des Jahres. Wikipedia befragt: Durga wird als mütterliche Figur gesehen und oft als schöne Frau dargestellt, die auf einem Löwen oder Tiger reitet, mit vielen Armen, von denen jeder eine Waffe trägt, und die Dämonen besiegt. Das Fest symbolisiert …

Zeitungslektüre 1: Hansi Flick

Wir lesen hier die indische Ausgabe des „The Telegraph“. Die Papierausgabe gibt es morgens an der Straßenecke. Das ist in der Stadt der Handys so richtig Old School, aber auch lässig, so mit der Zeitung unterm Arm und es trainiert mein schlechtes Englisch. Mein erster Blick geht dann, wie zu Hause auch, in den Sport. Die Wochenendausgabe des Telegraph hat heute drei Sportseiten. Wir sind in Indien, in Westbengalen, in Kolkata und wer guckt mich neben der Headline an? Genau. Hansi. „Ancelotti und Flick ready for clasico battle.“ Dann folgt zunächst auf der ersten Seite ausführlich alles zu Cricket. Was mich nicht wundert, weil die Jungen hier, wenn es der Verkehr zulässt, ihre langen Schläger auf den Straßen schwingen, am Sonntag auf den wenigen breiten „Boulevards“ und in den schmalen Gassen von Old-Kalkutta. Das hiesige Stadion Eden Gardens fasst 68.000 Zuschauer! Ansonsten dreht sich aber alles um den Fußball: Hansi, Mourinho, Fenerbahce, Pep, Messi, de Bruyne, Yamal…. Beim Chai kann man mit den Einheimischen so richtig fachsimpeln über einen Sport, der hier nur wenig gespielt …

Wenn es leise wird…

in dieser Stadt, dann kann es daran liegen, dass man unverhofft in „Old Calcutta“ gelandet ist. Es ist nach den lauten Hauptstraßen unfassbar wohltuend durch diese schmalen Gassen zu laufen, durch die nur Menschen gehen und gelegentlich Fahrräder oder Lastenräder rollen. Dass es das hier gibt… und dazu wirkt es für Kolkata- Verhältnisse irgendwie geordnet, ja sogar schön! Die Gebäude wurden meist Anfang des 20. Jahrhunderts im Kolonialstil gebaut. Teilweise tragen sie die Spuren ihres Alters deutlich, aber mit Charme, an manchen Stellen sieht man sie neu gestrichen oder sogar saniert. Die Bewohner scheinen ihr Viertel auch zu mögen. Während wir morgens durch die Gassen laufen, liegt der vom Vortag angefallene Müll schon zu Haufen zusammen gekehrt am Rand und wartet darauf, von den Lastenräder-Müllmännern mitgenommen zu werden. Natürlich gibt es auch in diesem Viertel an jeder Ecke einen Teestand. Der Chai wird auf einem kleinen Kohleofen gekocht, der würzige Duft nach Zimt und Nelken lädt schon von weitem zu einer Pause ein. Auf einer Bank sitzend, trinken wir den Chai mit Milch aus kleinen …

Das Hupen

Kolkata ist laut oder besser: sehr laut. Kolkata ist voller Menschen ….. und Autos und Busse und Tuk Tuks und Rikschas und Fahrräder und Motorräder und… Kolkata ist atemlos. Jeder will wohin. Jetzt. Und so klingt das Hupen: ich will da jetzt durch. Dann gibt es ein zweites Hupen: ein stolzes Hier-bin-ich. Die Fahrradfahrer nutzen dazu die Klingel, die Motorradfahrer und die Lenker der Tuk Tuks dieses quäkende Tröten. Dieses Hupen ist weniger aggressiv. Es soll sagen: also gleich bin ich bei dir, gehe mal besser zur Seite, ich fahre dir aber nicht über die Füße. Das dritte Hupen ist das arrogante, kurze. In der Regel ein klimatisierter SUV mit Lederausstattung und Fahrer vorne und keine verdunkelten Scheiben hinten, weil man gesehen werden will. Nicht ganz so selten. Dieses Hupen ist kompromisslos und machtvoll, distanziert. Da muss man zur Seite, wenn auch sehr widerwillig. Und dann das Hupen der Könige, der Busfahrer. Ein stotterndes Hupen, so fünfmal kurz hintereinander. Mehr ein Signal, ein „Gleich halte ich-steigt aus-steigt ein-es geht sofort weiter-macht mir Platz-Signal“. Dann gibt …

Royal Enfield 350 Classic

Sie wird nicht gefahren, sondern ausgefahren, zelebriert. Sie steht an vielen Ecken. Sie wird geputzt und gewienert. Der Fahrer (ganz, ganz selten eine Fahrerin) ist voll sympathisch und stolz. Nicht selten sitzt eine vierköpfige Familie auf ihr. Und dann gibt es noch Millionen anderer Zweiräder. Aber sie hört man immer raus. Dieser tiefe Sound des Motors, dieses tuckernde Dahingleiten. Außerdem will ich mir einbilden, dass der Fahrer einer Royal Enfield nicht wie alle anderen Verkehrsteilnehmer/-innen aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen STÄNDIG, ABER AUCH STÄNDIG, ALSO WIRKLICH STÄNDIG HUPT. Die spinnen die Kolkaten! Zu meiner Philosophie des Hupens in Kolkata später mehr.

AQI oder Wir kennen die Sonne nicht

In wenigen Tagen beginnt Diwali. Zu diesem mehrtägigen Fest gehört auch das „Böllern“, erste Feuerwerke explodieren bereits jetzt am Himmel. Schon der alltägliche Smog in Kolkata riecht wie bei uns der erste Januar in der Stadt. Und pünktlich zu Diwali ist die Luftverschmutzung wieder in vieler indischer Munde. In Delhi ist das „Böllern“ verboten. Wohl auch in Kolkata, wobei es illegale Quellen zu geben scheint. Damit sind wir bei AQI, dem Air Quality Index. Diese App gibt den aktuellen Grad der Luftverschmutzung an und ist in den Medien sehr präsent. In Kolkata liegt der Wert durch den Dauerregen gerade bei sehr guten 40. Zum Vergleich in Delhi bei 169, in Hamburg bei 19. Wie dramatisch sich die Luftverschmutzung in Indien entwickelt, zeigt der Film „Invisible Demons“ von Rahul Jain aus dem Jahr 2021 (auf MUBI). Darin erzählt ein junger Mann aus Delhi: „Wir kennen die Sonne nicht. Wir wissen nicht wo sie auf- und wo sie untergeht.“ Nachtrag: Am 27. Oktober liegt der Wert in Kolkata bei deutlich spürbaren 78 und in Delhi bei heftigen …