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Wohnen

Neben den tradierten und idealtypischen Vorgaben des „Vastu Shastra“ für die Baukunst (s. Artikel: Himmel, Herrschaft, Haveli) gibt es in Indien noch eine wesentlich stärker verbreitete Form des Bauens, insbesondere beim Wohnungsbau. Sowohl auf dem Land als auch in der Stadt ist ein Betonskelettbau meist die Grundlage des Gebäudes. Die Freiflächen werden mit Ziegeln ausgemauert. Die Stützstreben für den Betonguss der Etagen sind in der Regel Bambus- oder Holzstäbe. Häufig sehen wir mehrstöckige Gebäude, bei denen das Erdgeschoss schon bezugsfertig ist, der erste Stock aber noch auf Fertigstellung wartet. Oder Teile eines Gebäudes sind gemauert, andere verputzt und wieder andere sogar angestrichen. Es scheint auch hier alles ein Prozess des Werdens und Vergehens zu sein, sicherlich auch in Abhängigkeit von den finanziellen Möglichkeiten. Kirtee Shah, ein indischer Architekt, schätzt, dass über 70 % aller Wohneinheiten in Indien ohne Architekt, Baugesellschaft, Bauplan und Genehmigung entstehen. Und dann gibt es natürlich auch insbesondere in den Städten Neubauten, bei denen mit Fertigbauteilen gearbeitet wird und sogar die Verkabelung unter Putz angelegt wird. Und wie immer in Indien, findet …

Vergangenheit – Gegenwart

Sashi Tharoor (geb. 1956) hat 2016 eine Abrechnung mit der Kolonialherrschaft der Briten veröffentlicht. Die Grundthesen seines Buches „Zeit der Finsternis“ hat er vor neun Jahren in einer Rede formuliert, die millionenfach geklickt wurde und in Indien mittlerweile Schulstoff ist. Diese 15 Minuten (auf englisch) lohnen sich: https://youtu.be/f7CW7S0zxv4?si=KyYnRwWCvT9a_i08 Zweimal war ich bisher außerhalb von Europa. Mit meinem Sohn Levin in Namibia und jetzt in Indien, beides Länder mit heftiger kolonialer Vergangenheit. In Namibia schien uns der Völkermord an den Hereros und Namas Teil der aktuellen politischen Diskussionen im Land zu sein: Die Zahlung von Reparationen bzw. Wiederaufbauhilfen durch Deutschland, die Rückführung von Raubkunst, die Rückführung von Gebeinen, die Entschuldigung von Deutschland durch Bundespräsident Steinmeier und die Anerkennung des Völkermordes. Die historische Bewertung der brutalen deutschen Herrschaft schien uns dabei im wesentlichen unstrittig. In Indien scheint der öffentliche Diskurs an einer anderen Stelle zu stehen. Sashi Tharoor beschreibt die Folgen der britischen Herrschaft in Indien zwar nicht grundsätzlich neu, aber die Wucht ihrer Zerstörung und Vernichtung. Er wendet sich gegen Betrachtungen, die immer wieder die positiven …

Es ist ja ein neuer Tag

In Jaipur übernachten wir mehrere Tage im Chillout oder genauer: „Chillout – Hotel & Rooftop – Vegetarian Restaurant“ Das Hotel hat 16 Zimmer, einen Rooftop, 8 Mitarbeiter, keine Mitarbeiterin und einen Manager, der heißt Achid. Hochsaison ist von November bis März, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt bei 2 Tagen, die Wäschereinigung ist outgesourct. Interessieren würde mich jetzt noch die PKQ, der SPS…Berufskrankheit. Tok-Tok-Check-Check. Achid interessiert sowas weniger. Er ist „Host & Cook“, „Host & Cook!“ Jahrgang 1988, ein gut aussehender Mann, er bewegt sich mit einer natürlichen Eleganz. Die Dachterrasse ist sein Revier, seine Bühne. Geht die Sonne über Jaipur unter, beginnt sein Auftritt und sein Konzert. Er spannt über den gesamten Abend einen musikalischen Bogen, mal Michael Kiwanuka oder Gregory Porter, mal Hindisound. Mal auch zu laut, wie immer in Indien. Die Sonne verschwindet gegen 5 über Jaipur, begleitet von Man o To „Nu“. Achid geht von Tisch zu Tisch und bringt einen Chai mit. Es ist ja noch später Nachmittag. Hier ein Gespräch, dort eine Geschichte über Jaipur. Ein lässiger flow. Mal sitzt er …

Himmel, Herrschaft, Haveli…

Früh morgens am 13. November fahren wir mit dem Bus nach Amber, dem Herrschaftssitz der Mogul-Dynastie seit dem späten 16. Jahrhundert. Das beeindruckende Fort liegt auf den Hügeln in der Nähe der Stadt und ist mit seinen rötlichen Mauern und prachtvoll geschwungenen Baldachin-Dächern eines der touristischen Highlights in dieser Gegend. Während wir noch im Dorf am Hang bei einem Lassi im Café sitzen, fahren jede Menge Jeeps mit Touristen an uns vorbei die Straße zum Fort hinauf.  Vielleicht doch noch einen Chai trinken? Und dann finde ich im Café ein Buch über Architektur und Stadtplanung von Jaipur und tauche ab… Als 1792 der Mogulfürst Jai Singh II den Brahmanen Vidhyadar beauftragt die Stadt Jaipur anzulegen, wendet dieser für die geplante Stadt das aus der fast 5000 Jahre alten vedischen Tradition stammende Gestaltungsprinzip des „Vastu Shastra“ an. Durch diese Bauprinzipien sollte die kosmische Ordnung eine irdische Analogie finden. Es gibt bei „Vastu Shastra“ Hinweise, wie ein Haus, ein Tempel, eine Stadt, angeordnet und ausgerichtet werden sollen. Komisch, wenn ich in den letzten Tagen vom Rooftop …

Zeitungslektüre 2: In der Luft

The Times of India vom 14.11.2024. Jaipur: Der Jaipur International Airport hat vorgestern 17.768 nationale und 1.949 internationale Fluggäste verzeichnet, das war der „highest single-day traffic ever“. Jaipur: Wegen Smog in der National Capital Region (NCR) mussten gestern neun Flüge auf dem Weg nach Delhi nach Jaipur umgeleitet werden. Die Fluggäste beschweren sich in den sozialen Medien: „Wir stecken seit 4 Stunden im Flug QP 145 fest. Wir dürfen in Jaipur nicht aussteigen. Wir leiden im Flugzeug. Wir wollen was essen.“ In den letzten 12 Monaten haben die indischen Fluggesellschaften 1.700 Flugzeuge bei Airbus und Boeing bestellt. In den letzten 10 Jahren hat sich die Anzahl der regionalen Flughäfen von 70 auf 140 verdoppelt… Der Luftqualitätsindex AQI misst Ozon, Feinstaub, Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid und Stickstoffoxid. Er liegt heute in Jaipur bei 193 (ungesund) in Delhi bei 457 (gefährlich). Die Skala reicht nur bis 500.

Fegen, fegen…

Die fast 1,5 Milliarden Einwohner Indiens produzieren mittlerweile etwa ein Fünftel des weltweit anfallenden Plastikmülls, pro Jahr sind es 9,3 Millionen Tonnen. Die unfassbaren Mengen aller Arten von Müll sind überall, auf den Straßen und den Fußwegen, in Gräben, vor Häusern und in Flüssen, einfach überall! Vor allen Dingen der bunt und unvergänglich leuchtende Plastikmüll prägt zusammen mit den einhergehenden unangenehmen Gerüchen das Bild Indiens stark. Ein Vergleich der Plastikmüll-Produktion zu uns fällt zu unseren Ungunsten aus, denn wir knapp 80 Millionen Deutsche kamen 2023 auf 6,3 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle. Es gelingt uns offensichtlich nur besser, diese von den Straßen verschwinden zu lassen. Und gleichzeitig gilt: was nicht so leicht recycelt werden kann, verkaufen wir dann ins Ausland, oft nach Asien. Da kümmern sich dann die Ärmsten und unter ihnen auch Kinder unter in der Regel unwürdigen Umständen um die weitere Mülltrennung. Das ist in Indien nicht anders, hier sind in der Regel die „Dalits“, die Kaste der Unberührbaren zuständig für die Müllentsorgung – auch wenn es offiziell keine Kasten mehr gibt. Vor allem in …

Die 27-Stunden-Erfahrung

Bi ist für unsere Unterbringungen verantwortlich, ich für unsere Mobilität, so der Deal. Von Patna bis nach Jaipur sind es etwas über 1.000 Kilometer. Da alle Züge ausgebucht sind, fahren wir mit dem Bus. Ich habe einen A/C Sleeper für uns gebucht, einen Schlafbus mit Klimaanlage. Riskant. Das kann für den Mobilitätsbeauftragten Abzüge in der B-, wenn nicht gar A-Note geben. Fazit vorab: es war eine Erfahrung. Da auf den Voucher unterschiedliche Abfahrtsorte angegeben waren, was dem Mobi-Beauftragten zu spät auffiel, standen wir zunächst am Rande einer sechsspurigen Ausfallstraße. Professionelle Mobis bleiben hier gelassen: Eben ein Tuk-Tuk finden und dem Fahrer den Weg durch Patna weisen, weil er die Schrift auf meinem Handy nicht lesen kann. Geht doch. Der richtige Abfahrtsort ist die Zentrale von „Panwar Travels“, eine abgerockte Garage. Auf dem Firmenschild zeigt mir Bi das Bild eines sehr modernen Busses. Der Bus kommt ca. 1 Stunde zu spät und vor uns steht ein Fahrzeug, das, nun ja, fährt. Was will man mehr. Was nun folgt, wiederholt sich später an jeder Einstiegsstation. Ein mächtiges …

„Sanja dee…?“

Dass etwa 40 Leute abends vor dem „Bansi Vihar“ auf eigens aufgestellten Plastikstühlen sitzen und warten, ist normal – und im Restaurant sind natürlich die 150 Sitzplätze komplett besetzt. Die beiden wichtigsten Figuren sind der Türöffner und der Tische-Vergeber, der gleichzeitig auch der Abhol-Namen-Rufer ist, offensichtlich kann man hier auch Essen bestellen. „Sanya dee?“ oder „Ramon dee?“ oder so ähnlich klingt das, was er ruft. Im Idealfall springt jemand auf und kommt dann mit Taschen voller eingepackter Speisen aus dem Laden wieder raus. Sehr gute Kritiken hat das Restaurant von über 8000 Besuchern bekommen. Deswegen hat Tho es für uns ausgewählt. Außerdem liegt es nah an unserem Hotel. Ehrlicherweise sitzen wir zum dritten Mal vor dieser Tür und genießen das Warten bei angenehmen abendlichen 24 Grad bis wir eingelassen werden… na ja, ich schreibe währenddessen an diesem Artikel, weil ich ja gar nicht so gut warten kann. Berühmt ist das Bansi für seine „Dosas“, das sind hauchdünne knusprige Teigfladen, gefüllt mit unterschiedlichen Zutaten, zum Beispiel Kartoffeln, Linsen oder Käse. Dazu gibt es zwei kleine Schüsselchen …

Ein Überlebender

Patna liegt am Ganges. In der Stadt leben etwa 1,8 Millionen Menschen, in 25 Jahren sollen es ungefähr 5,1 Millionen sein. So in etwa. Wir waren heute am Ganges, am Mahatma-Gandhi-Ghat. Ghat nennt man hier eine zum Fluss hinunterführende Treppe. Auch hier steht ein kleiner Tempel. Der Fluss ist nur noch eine fließende Kloake, nur noch ein Stück Infrastruktur, einer der dreckigsten Flüsse auf der Erde. Vermutlich aus Platzgründen hat man in den Ganges hinein eine Hochstraße gebaut, vier- bis sechsspurig. Um die Ecke wird schon die nächste Hochstraße durch die Stadt gezogen, eine Metrolinie entsteht. Und dennoch schwimmt nunmehr seit 23 Millionen Jahren der Gangesdelfin durch diesen mächtigen und heiligen Fluss. In der Mythologie der Hindus reitet die Göttin Ganga auf einem Flussdelfin. Gangesdelfine sind praktisch blind, schwimmen auf der Seite und tasten sich mit ihrer Schwanzflosse am Grund entlang. Sie sind Einzelgänger und jagen über Echolotung. Sie haben eine sehr lange Schnautze, hervorstehende Zähne und blinde Augenhöhlen. 5.000 Exemplare sollen noch im Ganges leben. Ein Überlebender, trotz der Jagd auf sie, Staudämmen, Fabriken, …

Planänderung für den Sonnengott

Wir sind eingeladen zu einer Puja. Von Amal, der unser Hotel betreut. Er sagt, es sei ein speziell in diesem Teil von Indien gefeiertes Fest zu Ehren des Sonnengottes und der Natur, wir sollten unsere Abreise um einen Tag verschieben um das mit zu erleben. Zur genaueren Erläuterung schickt er den Link zu Wikipedia. Dort finden wir, dass die „Chhath Puja“ über 4 Tage dauert, dass verschiedene Rituale von der Reinigung über Fasten bis zur Opferung von Früchten und einem gemeinsamen Mahl dazu gehören. Heute, am 7.11. ist der 3. Tag, an dem der Untergang der Sonne rituell gefeiert wird. Also beschließen wir zu bleiben. Um 15:00 Uhr ist Treffen im Hof vor dem Hotel. Der Bruder, Amals 3jährige Tochter, seine Schwägerin, ein Cousin, ein Vater und ich weiß nicht wer noch alles aus der Familie kommen vorbei, die Verteilung auf die verschiedenen Autos geht lautstark und langwierig voran und irgendwann fahren wir tatsächlich los in Richtung Fluss. Der Niranja führt nur wenig Wasser und an beiden Flussufern sieht man Menschen und noch mehr Menschen …